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Ludwig Hevesi (1843-1910): Ludwig Speidel, Schriftsteller

Speidel, Ludwig, Schriftsteller, * 11. April 1830 in Ulm, † 3. Februar 1906 in Wien. – Die Zeit fängt an, Ludwig Speidel in Perspektive zu setzen. Sein historisches Nachleben beginnt und man sucht unwillkürlich nach der Formel, die ihn fassen möchte. Den Klassiker der Wiener Kritik dürfte man ihn zunächst nennen, aber er war noch manches andere. Groß und schwer, ganz aus einem Stück, lag dieser Block in der ausgedehnten Niederung der Tagesliteratur, und von seinem Gipfel hatten die Zeitgenossen einen ungeheuren Rundblick. Eine große Einfachheit ist der nächste Gesamteindruck von ihm, nach Wesen und Tun, und dennoch liegt seine Sache nichts weniger als auf der Hand. Ich habe über ein Menschenalter mit ihm verkehrt, in den letzten sechs Jahren auf sehr vertrautem Fuße; dennoch maße ich mir über manche Wichtigkeiten seines Lebens kein Urteil an. Er hatte überhaupt viel von einem großen Unbekannten. Als vor einigen Jahren ein deutsches Unternehmen von mir eine literarische Monographie wünschte, schlug ich Ludwig Speidel vor; der Bescheid war: Speidel ist in Deutschland zu wenig bekannt, interessiert also das Publikum nicht. Der Mann, der seit vierzig Jahren an der Spitze der Wiener Kritik stand und auch den Geschmack in Deutschland ganz wesentlich beeinflußte. Ihm fehlte das Weltläufige, Ausgreifende, er war ein Konzentrierter, in sich selbst Eingedickter. Wie ein kostbarer Naturstoff, der sich nach innewohnendem Gesetz ein für allemal kristallisiert hat und dann in Unverrückbarkeit den Beruf eines unendlichen Strahlenbrechens erfüllt. Mit seinen Sprühkanten und Blinkflächen ist nicht zu rechten; sie müssen. »Ich kann nicht anders, als ich kann!« hörte ich ihn in sehr alten und kranken Tagen unwirsch ausrufen. Das könnte der Wahlspruch seines Lebens sein. Seinem äußeren Leben hatte er einen verhältnismäßig engen Kreis gezogen, der sich gerade in den Jahrzehnten seiner unbeschränkten Machtfülle kaum je veränderte. Seine meisten Freundschaften waren lebenslänglich, und zwar gehörten zu seinen Vertrautesten nicht bloß berühmte Zeitgenossen, sondern auch ganz schlichte Niemande, deren Wesen ihn ansprach oder nicht störte. Desto reicher baute er sich innerlich aus. Nichts Wertvolles, Gediegenes, was der ästhetische Mensch geschaffen, blieb dem Kreislaufe seines geistigen Organismus fremd. Aber der unermüdliche Aufnehmer war ein verdrossener Mitteiler. Vor allem das Gegenteil eines Redners. Berühmt geworden ist ja sein einziger Redeversuch, als er bei dem Festessen, mit dem die »Neue Freie Presse« den Siebzigjährigen ehrte, die Festrede beantworten sollte. Er brachte bloß den ersten Satz heraus: »Das Feuilleton ist die Unsterblichkeit eines Tages«; dann schwieg er und setzte sich. Vollends haßte er das Schreiben. Über seine »Schreibfaulheit« hat sich eine Mythologie gebildet. Er war imstande, die letzte Novität vor den Ferien des Burgtheaters nach den Ferien zu besprechen. Daß ihn also nichts bewegen konnte, auch noch nach Deutschland zu schreiben, ist selbstverständlich. Er glich jenen großen Schauspielern des klassischen Burgtheaters, denen er als Kritiker an den Leib geboren war. Wie Anschütz, Löwe, La Roche, Fichtner in ihrer Blütezeit kaum je als Gäste in Deutschland auftraten, so auch der Schriftsteller Sp. Er und sie blieben draußen gleich unbekannt, wurden höchstens ein großes Hörensagen. Dazu kam, daß Sp. nie zu bewegen war, seine Aufsätze gesammelt herauszugeben. Auch nicht die kostbaren Stimmungsbilder, Novelletten, Märchen, die er für Festtage

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Ludwig Hevesi (1843-1910): Ludwig Speidel, Schriftsteller. Reimer, Berlin 1908, Seite 1. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ludwig_Speidel,_Schriftsteller.pdf/1&oldid=- (Version vom 1.8.2018)