Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Erster Band | |
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Einfälle der Barbaren, die Griechenland verheerend durchzogen; – das Christenthum endlich, abhold dem heidnischen Wissen, und dem heidnischen Kultus bis auf die äußern Zeichen seines Daseyns verfolgend, gaben der Stadt der Minerva den Todesstoß. Im fünften Jahrhundert wurden die Schulen der Philosophen in Athen geschlossen, die noch übrigen Tempel in Kirchen verwandelt. Unter wechselnder Herrschaft, bald den Byzantinern, bald den Venetianern, bald den Lateinern, bald Genua unterworfen, konnte sich Athen nie wieder erheben; als es endlich nebst ganz Attika 1456 in türkische Hände fiel, war sein Zustand kaum noch ein Schatten des frühern. Aber erst unter dem vierhundertjährigen Joch der Osmanen erfuhr die Stadt des Theseus, zum Leibgedinge des Harems erniedrigt und der Verwaltung von Eunuchen preisgegeben, die größte irdische Schmach. Kein Gesetz, keine Ordnung bestand mehr, weder für den Gewalthaber, noch für die Unterdrückten. Es gab in Athen keine Bürger mehr, nur noch Knechte der verworfensten Sklaven. Verschnittene, des Harems entmannte, fühllose Wächter, der Menschheit Auswurf, waren ihre Herrscher und deren Laune und Wille die Fäden, an denen der Athener Wohl und Wehe, Leben und Tod hingen. Elende Fristung des Lebens unter Verachtung, unter täglichem niederschlagenden Spott und Hohn, war unter diesem Joche ihr einziges, erreichbares Ziel. – Also stieg jenes Volk, das auf der Bildungsleiter der Menschheit der Staffeln höchste erreicht, anderthalb Jahrtausende lang abwärts, hinunter zum tiefsten Abgrund menschlicher Erniedrigung, Angesichts der rastlos mahnenden Erinnerungsmale seiner einstigen Größe. Die Mythe des Tantalus hat es auf die grauenvollste Weise verwirklicht.
– Aber, wunderbar! es hat durch alle Jahrhunderte der Schmach, aus dem tiefsten Schlamme der moralischen Verwilderung und Verdorbenheit den Funken gerettet, der unter bessern Verhältnissen wieder zur schönen Flamme werden kann. Es gibt keine Römer mehr, aber es gibt noch Griechen. Das Griechenvolk hat im letzten fünfjährigen Heldenkampfe gegen seine Unterdrücker, in einem Kampfe, dem der Ahnherren gegen die Perser ähnlich und an Großthaten wahrlich nicht ärmer! die Würdigkeit seines Namens besiegelt und gezeigt, daß – trotz der entsetzlichsten moralischen Ausartung – der Heroengeist nicht von ihm gewichen. – Hellas Volk steht wieder da, selbst eine Trümmer, fürwahr! aber – eine Trümmer wie die des Jupitertempels auf dem olympischen Hügel, ehrfurchtgebietend und voll Hoheit. Wer, der in den Thaten, welche dieses Volkes Verzweiflungskampf gegen die gesammte Macht der Osmanen verherrlichen, den Maaßstab der Kräfte sucht, die in ihm schlummern, wer möchte vorbestimmen, welche Rolle ihm in der Bildungsgeschichte der Menschheit dereinst noch beschieden?
Athen ist jetzt nur noch ein Haufe meist verödeter Hütten unter Ruinen mit kaum 1000 armen Einwohnern. Es ist zur Metropole des neugriechischen Königreichs erklärt worden. – Manchem klingt’s wie Scherz; Manchem wie eine Weissagung großer, glänzender Zukunft.
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Erster Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen und New York 1833, Seite 94. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_1._Band_1._Auflage_1833.djvu/104&oldid=- (Version vom 9.6.2024)