Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Fünfter Band | |
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Es ist eine große, prächtige Kirche, mit schimmerndem Kupferdache, von einem hübschen Dom und drei Thürmen überragt. Doch ist sie blos die äußere Hülle, das Gehäuse des eigentlichen Gnadenhauses. Dieses, ein kleiner Tempel von schwarzem Marmor, steht in der Mitte der Kirche. Er ist mit Silber gedeckt und mit schweren Goldstoffen behangen. Massiv von Silber sind die Thüren; von demselben Metall das Gitterwerk, mit Silber belegt die Wände. Das wunderthätige Bild der heiligen Jungfrau steht auf hohem Postamente, angethan mit weißem Atlas, auf welchem tausende von Edelsteinen funkeln. Auf dem Haupte trägt sie eine Krone von Rubinen und Diamanten. Ueber ihr, unter einem Dome von Silber, hängen goldene Lampen. Das Ganze macht auf Denjenigen, der sich in der höchsten Stimmung zur Andacht naht, einen unauslöschlichen Eindruck.
Aber auch die Gegensätze des Würdigen fehlen an diesem geweihten Orte nicht. Tausende von Votivbildern liegen, mit Staub und Schmutz bedeckt, ohne Ordnung umher; die Wände des Tempels sind mit Flittertand, mit silbernen, hölzernen und wachsernen Beinen und Armen, mit Krücken und andern dergleichen Opfergaben, in widerlichem Durcheinander, behangen, und innerhalb der Kirche hat die Habsucht ihre Waaren ausgelegt: Kreuze, Rosenkränze, Heiligenbilder, Votivsächelchen, Wachsstöcke, Kerzen etc. etc., und sie bietet sie den sich andachtsvoll Nahenden frech und zudringlich zum Kauf an. Man denkt beim Anblicke dieses Trödelkrams unwillkührlich an die Worte Christi: „Mein Haus ist ein Bethaus; ihr aber habt es zur Mördergrube gemacht!“
Dem Reinen ist Alles rein und dem wahren Gläubigen irrt auch der Wucherer nicht, der mit dem Geweiheten in des Herrn Hause Schacher treibt. Unzugänglich einem andern Gefühl, als dem der Zerknirschung, oder der beseligenden Andacht, liegen die Schaaren der Wallfahrer vor dem vergitterten, schimmernden Gnadenbilde auf den Knieen, oder sie küssen der Kirche heiligen Boden. Einige singen Hymnen, Andere beten laut, wieder Andere schlagen sich, stumm, aber die Lippen bewegend, voller Demuth die Brust. Man sieht allerlei Trachten und hört beten in vielerlei Sprachen. Böhmische Lobgesänge, ungarische Lieder, slavische Litaneien, deutsche Paternoster schallen durcheinander. Allem Volke scheint die Zunge gelöst, wie beim Bau von Babel, aber keines läßt sich von dem andern stören; Alle sind eins durch ein Gefühl, das der Andacht. Zuweilen öffnet ein Priester die silberne Gitterthur, und ein Strahl von dem schimmernden Bilde fällt beseligend auf das betende Volk. „Hosianna!“ hallt’s dann im Tempel; „Hosianna!“ antwortet die Menge draußen; „Hosianna!“ schallt’s von den Schaaren der Kommenden aus der Ferne wieder.
Man sagt, Niemand bewache den Schatz der Kirche. Wie dem auch seyn mag, gewiß ist, daß man niemals von einem Diebstahl gehört hat und der Glaube im Volke allgemein ist: jede frevelnde Hand würde gelähmt, welche sich in räuberischer Absicht dem Heiligthume nahe.
Die Zahl der Wallfahrer, welche, in großen Caravanen, aus allen Theilen des Kaiserstaats jährlich nach Maria-Zell pilgern, übersteigt 80,000.
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Fünfter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1838, Seite 216. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_5._Band_1838.djvu/224&oldid=- (Version vom 6.11.2024)