Zum Inhalt springen

Seite:Meyers Universum 7. Band 1840.djvu/119

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.

setzten die Götter ihren Lieblingen auf die hohen Häupter, und die klaren Bäche hängen an ihren Seiten wie diamantene Bänder. Hörst du die Quellen rauschen? sie eilen durch die dunklen Schluchten nach den sonnigen Thälern, wie Kinder aus dumpfigen Stuben zum Spiel auf die grüne Wiese. – Horch! wie der Wasserfall donnert und widerhallt durch die ferne Bergwelt. Das ist der Sturz des Jumna, in dessen weißen Schaumwolken sich die schwarzen Vögelschaaren gebadet haben, die dort am Himmel hinziehen. Mit ihnen zieht auch die Sonne heim; denn sieh’! es glühen schon die Flammen auf den Tempeln unsers großen Gottes.“

Die Mahadeo-Tempel gehören in jenen Cyklus heiliger Stätten, welche den Lauf des Ganges aus dem Himalajah bis zur großen bengalischen Ebene verfolgen. Jede dieser Stätten hat einen wunderthätigen Ruf und ist das besondere Ziel von Pilgerschaaren, welche aus allen Theilen Indiens herwandern, um ihre Andacht zu verrichten, ein Gelübde zu erfüllen und Vergebung der Sünden zu suchen. Nach Hurduwar allein kommen öfters über eine Million in einem Jahre; zu den Mahadeotempeln schaaren sich 40- bis 50,000. Ueberall in dieser heiligen Gegend hält die priesterliche Habsucht Aerndte; für Geld theilt sie im Namen der Gottheit an die schuldigen Gewissen Vergebung aus, und die Erfindung, auf die Absolution künftiger Verbrechen mit Gold-Mohurs pränumeriren zu können, machten sich hier die Braminen schon lange vor christlicher Zeit zu Nutzen. In besondern und schweren Fällen ist es die priesterliche Praxis, dem Pilger das Versprechen abzunehmen, jedem Braminen, der ihn irgendwo und zu irgend einer Zeit um eine Gabe ansprechen werde, solche zu reichen, und häufig werden durch die Erfüllung dieser Verpflichtung reiche Leute zu Bettlern.

Die Mahadeotempel rechnet man zu den ältesten Indiens. Sie haben alle die Gestalt eines schlanken vierkantigen Thurms, der in einer vergoldeten Spitze in Flammenform endigt. Sie sind von Quaderstücken gebaut, welche man ohne sichtbaren Mörtel, oder Cement, aber bewundernswürdig genau zusammen fügte. Skulpturen schmücken die äußern Wände, und man bemerkt, bei aller Rohheit der Ausführung, in den Umrissen Geist und Freiheit. In jedem Tempel sind beständig zwei Braminen gegenwärtig; während der Pilgerzeit aber viel mehr, und die Zahl der an sämmtlichen Wallfahrtsorten dieser Gegend dann anwesenden Priester ist wohl Zehntausend. Groß, fürwar! müssen die Opfer seyn, welche die mißbrauchte Dummheit bringt, um ein solches Heer faullenzender Betrüger zu erhalten.



Empfohlene Zitierweise:
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Siebenter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1840, Seite 111. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_7._Band_1840.djvu/119&oldid=- (Version vom 29.10.2024)