Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Neunter Band | |
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Residenz des jetzigen Kaisers. Am Ende dieser Fronte springt ein neuerer Anbau hervor, der 1805 für große Hoffeierlichkeiten erbaute Rittersaal, über welchem, im zweiten Stocke, der alte Held, Erzherzog Karl, seine Zimmer hat. Durch einen niedrigen, schmalen, unscheinlichen Thorweg gelangt man zu dem innern Burgplatz, einem Viereck, dessen eine Seite von dem erwähnten Schweizerhof, die andere gegenüber vom Amalienhof und die übrigen vom sog. Leopoldinischen Bau und der prächtigen, von Fischer von Erlach erbauten Reichskanzlei umgeben sind. Vor letzterer prangen schöne Marmorgruppen – die Thaten des Herkules vorstellend: – keine unglückliche Allegorie auf die übermenschliche Kraft, welche dazu gehören wurde, diesen Augiasstall zu fegen, und Ordnung und Klarheit in das hier bewahrte Aktenchaos zu bringen, unter dem der letzte Lebenshauch des deutschen Reichs erstickte, und wo die Vermögen und die Hoffnungen von tausend Familien in hundertjährigen Prozessen begraben liegen. Die Auferstehungsverheißung, sie wird hier wohl nimmer erfüllt! Alle Prozeßakten und Papiere des Reichsarchivs wurden bei dem Andrange der Franzosen in große Kisten gepackt, um sie zu flüchten; aber die Eroberer kamen auf Windesflügeln, die Kisten blieben da, und unter Schloß und Siegel sind sie hier hoch aufgestapelt: ein merkwürdiges Memento mori des heiligen römischen Reichs. – Einen Blick noch in die Schatzkammer, ehe wir aus diesem Theile der Burg scheiden! Auch sie ist eine Grabhalle, und nicht blos für das heilige römische Reich; denn da liegen die Kleider, Kronen, Königsmäntel der Gewaltigen vieler Länder und Jahrhunderte; da sieht man Wallenstein’s Horoskop, Timur’s und Saladin’s Schwert; die silberne Wiege des Königs von Rom; Napoleon’s Degen, Krone und Krönungsgeräthe; den Schlüssel zu der Kaisergruft bei den Kapuzinern; den Krönungsornat der deutschen Kaiser. Unter dem österreichischen Kronschatze wird auch der Diamant gezeigt, den einst Karl der Kühne in der Schlacht bei Granson gegen die heldenmüthigen Schweizer verlor. Ein Bauer fand ihn; er hielt ihn für Glas und verkaufte ihn einem Juden um einen Gulden. Sein jetziger Werth ist auf 1 Million 643,394 Gulden geschätzt.
Ein Thor des Schweizerhofes führt zu dem Josephsplatz. Prachtgebäude umschließen ihn von drei Seiten: die Hofbibliothek, mit ihrem 240 Fuß langen und 54 Fuß breiten Saale, geschmückt mit den Marmorstatuen von 12 Habsburg’schen Kaisern; sodann die Reitschule, die mit Säulen und Statuen überreich dekorirt ist, und die Augustinerkirche (Hofkirche), noch aus der Blüthenzeit der gothischen Architektur. Ihr Erbauungsjahr ist 1330. In einer Kapelle (der Lorettokapelle) stehen die Herzen der erstorbenen Habsburger in silbernen Urnen; die Leiber derselben ruhen in der Gruft bei den Kapuzinern. – Doch hinweg von diesen modernden Ueberresten irdischer Größe, und hinaus, wo ein frohes, freies Himmelsblau sich aufthut! Auf dem herrlichen Josephsplatz angelangt, da schaut eine Menschengestalt hoch zu Roß herab: Kaiser
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Neunter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Philadelphia 1842, Seite 94. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_9._Band_1842.djvu/102&oldid=- (Version vom 31.12.2024)