Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Neunter Band | |
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Wohlstands nur mit Oesterreich möglich und kann sich die nationelle Einheit Deutschlands groß, gewaltig, die übrige Welt zügelnd, vollkommen ausbilden. Die Zolllinien und die Schlagbäume, welche noch immer Oesterreich von den übrigen Gliedern der deutschen Familie auf eine so unnatürliche Weise getrennt halten, müssen ebenfalls fallen; sie werden fallen und wenn dann das von dem deutschen Fleiß erworbene Kapital an Geld, an Können und Wissen im allgemeinen, fessellosen Verkehr durch des weiten Vaterlandes Adern kreißt, dann wird die rechte Lebenswärme in alle Theile kommen und damit der vereinten deutschen Nation das klare Gefühl einer innern Sicherheit, einer vollen Geltung, eines festen Rückhalts, eines verborgenen Lebensfonds, der, bei zustoßenden Unfällen, seine Schatzkammern aufthut, seine Heilkräfte offenbart und Unheil abwendet oder austilgt. Dieses Gefühl den deutschen Völkern zu geben: das ist des Habsburger Kaiserstamms schönster Beruf; in ihm liegt seine höchste Bedeutung zum Vaterlande, und es wird ihn – die neuesten Zeit-Erscheinungen sind dafür Bürgen! – nicht unerfüllt lassen.
Die kaiserliche Residenz, gewöhnlich die Burg, auch die Hofburg genannt, liegt am Südwestende der eigentlichen Stadt Wien, zwischen der Esplanade und einem weiten Kranze von Vorstädten, der Wien von allen Seiten umgibt. Die Burg imponirt nicht durch ihre Bauart; mehr durch ihre, doch von keiner Seite her ganz zu übersehende, Masse. Ihre ältesten Theile standen schon im dreizehnten Jahrhundert. Ein Babenberger, Leopold VII, gründete sie; seitdem ist, in dem Maße, als das Ländergebiet des österreichischen Hauses wuchs, ein Theil, ein Flügel nach dem andern angebaut worden, und so entstand allmählig die jetzige Residenz, ein Agglomorat von mehr oder minder prachtvollen Gebäuden, ein Quodlibet der Baustyle vieler Jahrhunderte. – Die Gebäudefronten schließen den Burgplatz und andere, kleinere Höfe ein, oder richten sich gegen die benachbarten Plätze und Straßen. Sämmtliche Gebäude sind durch Gallerien und Thorwege mit einander verbunden. Im Innern der Residenz herrscht Wohnlichkeit und Bequemlichkeit mit fürstlicher Pracht. Der älteste Theil heißt vorzugsweise die alte Burg, oder der Schweizerhof, und hier, im zweiten Geschosse, wohnte, in häuslicher Einfachheit, Vater Franz mit seiner Gemahlin bis an seinen Tod. Gegenwärtig bewohnt ihn noch seine Wittwe, die Kaiserin Mutter. Auch befinden sich daselbst die Schatzkammer und die kostbaren Privatsammlungen des Kaisers. Am Burgplatz, der sich links nach dem Volksgarten und dem Theseustempel (mit Canova’s berühmter Marmorgruppe: Theseus, den Centauren bekämpfend) öffnet, rechts aber zum kaiserlichen Hofgarten, an dessen Eingang die Reiterstatue Kaisers Franz des Ersten steht, führt, gewährt die südliche Fronte, mehr durch ihre Masse als durch ihren Styl, jenen imposanten Anblick, den der Künstler im Stahlstich verbildlicht hat. Sie ward unter Kaiser Leopold gebaut und wurde von der Maria Theresia und von Joseph II. bewohnt. Sie ist auch
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Neunter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Philadelphia 1842, Seite 93. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_9._Band_1842.djvu/101&oldid=- (Version vom 31.12.2024)