Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Neunter Band | |
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Da liegt das alte Marburg in seinem grünen Thale, sonnig glänzen seine Hügel umher und seine Burg prangt malerisch auf ihrem Felsen; Garten an Garten windet sich wie ein Blumengeflechte um die Stadt und läßt die alten grauen Thore nicht sehen, welche, wie gute Wirthe, den Fremden empfangen und ihm zurufen: komm’ herein! – Innen enge Gassen, bald ansteigend, bald abschüssig, hervorspringende Giebel, ächtes, deutsches, mittelalterliches Gewand. Nur in der kleinen Neustadt und am Casseler Thore reihen sich moderne Gebäude zu ein paar schönen Straßen an einander. Junges Blut mit Barett und Bocksbart und ellenlangen Pfeifen macht die Gassen lebendig; hübsche, muntere Mädchengesichter lauschen in den Fenstern, ein lebensfroher Sinn kömmt Einem allerwärts entgegen: es ist die rechte Staffage einer kleinen deutschen Universitätsstadt.
Und klein ist sie, obschon sie sich weit ausspreizt mit ihren Anwüchsen, wie wenige Städte ihrer Größe. Sie zählt nicht ganz 8000 Bewohner, und die Frequenz der Universität übersteigt selten 250. Der Stolz des Städtchens ist sein ehrwürdiger Gottestempel, die Elisabethenkirche. Trotz einer ungünstigen Lage in der Tiefe ragt doch sein majestätisches Thurmpaar überall über die Giebelmassen hervor. Einst berühmt durch die ganze Christenheit wegen des Grabes der heiligen Elisabeth, und darum von Hunderttausenden besucht, hält ihn die Gegenwart hoch als Denkmal altdeutscher Baukunst. Nur das, was ihm in den Augen der Gläubigen so großen Werth gab, ist ihm genommen. Die Gebeine der frommen Frau sind nicht mehr da; sie wurden weggebracht und in alle Welt zerstreut. Wucherischer Handel ist damit getrieben worden und arger Betrug: denn jetzt streiten sich die drei Städte um die Ehre, den Schädel der Heiligen zu besitzen; Brüssel, Dresden und Wien stellen ihn gleichzeitig zur Verehrung aus! Auch ward das Grabmal allmählig seiner größten Kostbarkeiten beraubt; noch während der Franzosenherrschaft wurden 115 große Edelsteine aus demselben gestohlen. Nur die Statuen und Figuren von getriebenem Silberblech sind noch übrig. Interessant und besser erhalten sind die trefflichen Glasmalereien im Chor, und die Monumente und Standbilder der alten Deutschordens-Comthure und der Landgrafen von Hessen, welche letztere alle bis auf Philipp den Großmüthigen hier begraben liegen.
Zur Aula der Universität, die im 15ten Jahrhundert gegründet wurde, dient das Gebäude des ehemaligen Dominikanerklosters. Ihre großen Tage hatte die Hochschule zur Zeit der Reformation; damals zog der wissenschaftliche
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Neunter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Philadelphia 1842, Seite 227. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_9._Band_1842.djvu/235&oldid=- (Version vom 6.1.2025)