Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Neunter Band | |
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Welch ein schönes, altdeutsches Bild bewahrt da Braunschweig in seinem Innern! Wir sahen Frankfurt, Regensburg, Augsburg, Nürnberg, Cöln; diesem kommt nichts gleich; der nordischen Schwester gebührt der Preis.
Braunschweig, dessen ehemalige Befestigungen seit 1814 in freundliche Gartenanlagen umgewandelt sind, liegt in einer Ebene an der Ocker und macht mit seinen hundert Straßen und den 4500 meist massiven Wohnhäusern ein gar stattliches Ganze, das von fern schon durch seine vielen Thürme und Thurmspitzen imponirt. Wie in allen Städten, die den mittelalterlichen Charakter behalten haben, so sind auch hier die Straßen zwar oft enge und ungerade, von den Märkten mancher klein oder unregelmäßig, und viele der schönsten Monumente der alten Baukunst entweder versteckt, oder durch spätere Anbauten dem Auge theilweise entzogen: großartig aber sind mehre Plätze, so der Burgplatz, mit dem ehernen Löwen Heinrichs, der graue Hofplatz mit dem Residenzschlosse, der Hagemarkt mit dem Theater, und der Altstadtmarkt mit dem ehemaligen Rathhause. Die prachtvolle, mit kunstreichen Ornamenten und mit lebensgroßen Kaiserstatuen geschmückte Fronte desselben ist ein Denkmal der Zeiten, in welchen das deutsche Bürgerthum seine Blüthe und Macht entfaltete, die Rolle der Fürsten übernahm, das Faustrecht bekämpfte, neue Grundlagen der Ordnung im Reiche schuf, und, im Hansabunde vereinigt, die Freiheit und Sicherheit der Meere gründete, schirmte, und dem Handel sichere Bahnen brach.
Aber dem altersgrauen Hause ist das innere Leben abgestorben, entfremdet seiner ursprünglichen Bestimmung, ist es in Kaufläden umgewandelt worden, und während der Meßzeit dienen die geräumigen Säle fremden Handelsleuten zum Bazar. Die Idee des Bürgerthums, wie sie sich in diesem Hause darstellte, wird und kann nie wieder erstehen: doch hatten sich aus dem alten, sehnigen Athletenkörper so viel straffe Fasern dem neuen assimilirt, daß in unsern Tagen Etwas geschehen konnte, was sich wie ein herausgerissenes Blatt der alten Geschichte Braunschweigs liest. Wer, der die neue Residenz betrachtet, gedenkt der Nacht nicht, in welcher Braunschweigs Bürgerschaft mit dem alten Schlosse ihrem Fürsten aus dem Lande leuchtete! Dieser imposante Versuch der angebornen Kraft war wie ein mächtiger Schmiedehammer, der auf den nackten Ambos schlug: die Erde erbebte, daß viele Throne wackelten: aber – das warme Eisen fehlte. –
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Neunter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Philadelphia 1842, Seite 231. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_9._Band_1842.djvu/239&oldid=- (Version vom 6.1.2025)