Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Neunter Band | |
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Mein stiller Vorsatz hängt nach wie vor unverrückt an seiner hohen Stelle: nur ich, der Mensch, stehe jetzt um so viel tiefer auf der umrollenden Erde. Seyd deß eingedenk, Ihr Lieben! Erinnert Euch, daß die Blüthenkronen meines Geistes noch welk sind, daß noch geknickt sind seine Aeste und daß es der Zeit viel bedarf, sie wieder aufzurichten. Uebt deshalb Nachsicht und beurtheilt die Leistungen, welche meine geschwächte Kraft Euch bietet, mehr dem Willen, als der That nach.
Geschrieben, nach fünfmonatlicher Krankheit, am 26. October 1842.
Ich lag in Fiebergluth. Wochenlang schon war der Schlaf von meinen geschlossenen Augen geflohen. Der Traum saß auf meiner erhitzten Stirn, bald als quälender Alp, bald als wohlthätiger Zauberer, der heitere und anziehende Bilder vor die Seele gaukelte, Bilder am Vorhange der Zukunft, oder aus dem Schrein der Erinnerung. – Diese Erinnerungsbilder waren nicht bloße, matte Schatten der Wirklichkeit; der Traum hatte sie mit frischen Farben übermalt, mit grellen Lichtern aufgehöht, und um sie hing er phantastisches Schlingwerk von Immergrün und Blumen. Mit Vergnügen gedenke ich noch jetzt dieser Träume, und einen derselben erzähle ich wieder.
Ich war in London. Ich stand auf der Gallerie über dem Dom von Sankt Pauls. Nacht war’s. Ueber mit glitzerten die Sterne im dunklen Aetherblau, seitwärts zog der Vollmond hinter silberrandigem, dünnen Gewölk fort. Unten lag das neue Babylon. Seine millionenstimmige Zunge war verstummt: ich lauschte; still war die Stadt wie ihre Gottesäcker. Nur die Lichtstreifen, welche in der dämmernden Tiefe sich durchkreuzten, verriethen die Straßen und Plätze, sie wurden mir zum Ariadnefaden, mich in dem Häuserlabyrinthe zurechtzufinden. Zunächst lag die City. Ich erkannte die Kuppel der Bank von England, und daneben den Säulenhof der Börse,
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Neunter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Philadelphia 1842, Seite 66. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_9._Band_1842.djvu/74&oldid=- (Version vom 30.12.2024)