Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Neunter Band | |
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„Lauterbrunn, Thal des Lieblichen und wundervollen, des Schauerlichen und Erhabenen, wer dich nicht selbst gesehen hat, wage es nicht, dich zu beschreiben! –“ – so mahnt Matthisson. Auch ich sah dich nicht, und so folge ich gern der Schilderung eines Freundes, den du vergangenes Jahr entzückt hast.
„Es war ein warmer, heiterer Juniabend, als ich auf der kleinen Terrasse vor dem gastfreien Lauterbrunner Pfarrhause saß, versunken in den Anblick der glühenden Gletscher und der alle Firnen und Hörner des Gebirgs überragenden Jungfrau, welche ihr ewig starres Haupt 13,000 Fuß hoch in den blauen Aether hebt. Halb im Schatten ruhte unter mir, still und verborgen wie manche gute That, das Dörfchen Lauterbrunn mit seinen zerstreuten Hütten und lichtgrünen Wiesen und Weiden. Unzählige Quellen durchrieseln und beleben das enge Thal, und von den himmelhohen Felswänden herab stürzen sich, in Dunst aufgelöst, brausende Bergbäche. Einer derselben ist der berühmte Staubbach, einer der schönsten und merkwürdigsten Wasserfälle der Schweiz. Weiter im Thale hinauf bricht sich ein anderer berühmter Wassersturz, der des Trümmelbachs, mit furchtbarem Getöse, über und durch den hohen Mönch den Weg zum Abgrund. Unersteigliche Berge, mit ewigem Schnee bedeckt, schließen das Thal und zwingen den Wanderer zur Umkehr.“
„Die Umgebung Lauterbrunns ist nicht weniger romantisch, als das Thal selbst, und jeder, der herkommt, pflegt deshalb einen oder ein paar Tage da zu verweilen.“
„Den nächsten Morgen in aller Frühe bestieg ich, in Begleitung eines Führers, zuerst die kleine Scheideck, welche das Lauterbrunnerthal vom Grindelwald scheidet und am Fuße der Jungfrau liegt. Auf dem Sattel ergötzt die imposanteste Ansicht des Grindelwalds mit seinen beiden colossalen Gletschern, und im Hintergrunde steigt die große Scheideck auf, über welche der Weg nach dem Rosenlaui-Gletscher, dem Reichenbach und nach Meyringen führt. – Wir setzten, den stachelbewaffneten Alpenstock in der Hand, über mehre Klafter dicke, festgefrorne Schneefelder, an Abgründen hin und über Schluchten und Spalten. Wie von Edelsteinen übersäet, so blitzte und flimmerte vielfarbig in der Morgensonne die Schneedecke. Rund um mich her ragten weit über die bewohnbare Welt hinaus die Eisgebirge. Ich bewunderte; doch mit viel größerer Bewunderung vor der eigenen Natur wurde ich erfüllt, als mein Führer auf die Stelle an einer fernen Gletscherwand hindeutete, wo Agassiz
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Neunter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Philadelphia 1842, Seite 75. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_9._Band_1842.djvu/83&oldid=- (Version vom 30.12.2024)