Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Neunter Band | |
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Land übrig. Gleichwohl hat das kleine, streng demokratische Gemeinwesen schon ein Halbjahrtausend fest bestanden, und die Menschen, meistens Alpenhirten, leben hier, bei großer Einfalt der Sitten und von Abgaben nicht bedrückt, glücklich und zufrieden.
Von dem Zugersee steigt der 7000 Fuß hohe Rigi steil empor. Es wird dieser Berg jährlich von 30 bis 60,000 Reisenden besucht, und die Fahrt auf seinen Gipfel knüpft sich mit einer auf dem See gewöhnlich zusammen. Der Weg geht vom Ufer fast treppenartig aufwärts, unter dichtem Waldschatten hin. Im Sommer ist er herrlich! Dann überall rieselnde Quellen, duftende Blumen und schmetternder Vögelgesang. Herkömmlicher Weise rasten die Rigiwanderer, die vom See her aufsteigen, unterhalb der Kuppe am Kapuzinerkloster, wo nicht weniger als 5 Wirthshäuser stehen, und vollenden den Weg nach dem Rigi-Kulm, d. h. der höchsten Spitze des Bergs, am andern Morgen, ehe der Tag graut, bei’m Geleite einer Laterne, um vor Sonnenaufgang oben zu seyn. Hat man den rechten Augenblick zur Abfahrt gewählt, und das Glück, einen hellen Morgen zu treffen, dann sieht man bald nach der Ankunft oben den letzten Schleier der Dämmerung sinken, und zwischen den weißen Nebelfloren in Osten die ersten goldnen Strahlen des jungen Tages zucken. Glänzende Rosengluth überzieht allmählig Berg und Thal. – Wohl Dir, wenn Dich nicht, wie es leider! meist der Fall ist, der Lärm und der schale Witz roher Gesellen stört, und Du die majestätische Herrlichkeit des Sonnenaufgange in Gemeinschaft der großen Natur in stiller Andacht mitfeiern kannst. Schöner sieht man das prächtige Schauspiel von keinem Punkte der Erde.
Folgt dann die Helle des Tage, so entzückt Dich eine unermeßliche Aussicht. Du siehst die Hochalpen der Schweiz im weiten Halbzirkel, der fast zwei Drittheile des ganzen Horizonts einnimmt. Alle ihre Häupter strahlen, wie in Glorien. Dann die zwölf blauen Seen in der Tiefe. Nordwärts ist Hügelland, mit prangenden Auen, Feldern und Wäldern, mit vielen Strömen, Städten, Flecken und Dörfern, den tausend Weilern, den Schlössern und Burgen: – Alles ist so klar, man hat das weite Land wie eine kolorirte Reliefkarte vor sich. Der Jura, die Vogesen, der Schwarzwald bilden den Rahmen auf dieser Seite. Das Ganze ist ein Panorama, an Umfang ungeheuer, an Herrlichkeit unaussprechlich. –
Unterm Kulm steht ein Wirthshaus; dahin zieht die Wandererschaar zum Frühstück, wenn die gesättigte Seele dem Körper sein Stimmrecht gönnt. Das Haus ist weit; doch kann es oft die Menge nur zum kleinsten Theile fassen. Vom Kulmwirthshause neigt sich der Weg allmählig und anmuthig unter der mannichfaltigsten Aussicht 3 Stunden lang hinab zum See, wo stets Nachen der Kommenden harren, um sie nach einer der vier Waldstädte zu rudern, oder an der Landzunge zu landen, von wo der Weg, an Tell’s Kapelle vorbei, zurück nach Zug führt.
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Neunter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Philadelphia 1842, Seite 80. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_9._Band_1842.djvu/88&oldid=- (Version vom 30.12.2024)