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den Gläubigen zum Kusse dar. Jeder küßt die Thora, die meisten, indem sie ihre Hand oder den Zipfel ihres Gebettuches auf die Thora drücken und denselben dann küssen.

Nun wird die Thora zurück in den Altarschrein gestellt, der Vorhang vorgezogen, und es folgen feierliche Gesänge, auf die die Gläubigen im Chor antworten. Seit Ausbruch des Krieges ist hier das Singen in allen Kirchen und Tempeln zum Zeichen der Trauer eingestellt, auch jede Kirchenmusik. So singt nur der Kantor allein, während sonst ein sehr guter Männerchor ihn begleitet.

Zum Schluß des Gottesdienstes treten noch alle die an die Estrade, denen im Laufe der letzten Zeit jemand gestorben ist, und es werden Klagelieder gesungen.

Diese hebräischen Klagelieder sind grauenhaft. Ein Lallen, das sich nicht zum Wort durchringt, fremd, unverständlich und gleichzeitig verwirrend und erschütternd. Sie sind nicht von heute. Es ist, als ob dis Jahrtausende hinwegschmölzen und du stehest im Lande Moses', umgellt von der primitiven Klage eines Urvolkes, das seine Sehnsucht und seinen Schmerz nicht in Worte formen kann.

Wie der Gottesdienst im Tempel beendet war, gingen wir in die alte Synagoge, die gleich dahinter steht. Sie soll über 600 Jahre alt sein. Gegenwärtig steht sie leider so tief unter dem Niveau der im Laufe der Zeit aufgeschütteten Straße, daß man wie in einen Keller hineingeht.

Hier beten die streng orthodoxen Juden.

Da war jedes Plätzchen besetzt, daß keine Stecknadel zu Boden hätte fallen können. Eine Jüdin räumte mir sehr freundlich ihren Platz an der Brüstung der Galerie ein, damit ich hinabsehen könne.

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Ilka von Michaelsburg: Im belagerten Przemysl. C. F. Amelang, Leipzig 1915, Seite 76. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:MichaelsburgImBelagertenPrzemysl.pdf/86&oldid=- (Version vom 1.8.2018)