Denn bei ihnen überwiegt infolge ihrer Bildung und ihrer Beschäftigung in der Natur die assoziative Denkform. Ganz dasselbe ist bei den Kindern der Fall, die namentlich für Lied und Spiel einen reichen volkskundlichen Stoff gewähren. Von den beiden Geschlechtern hat das weibliche entschieden mehr Neigung zur assoziativen Denkweise als das männliche; hieraus erklärt sich, daß wir bei ihm gewisse Äußerungen des Volkstums (Aberglaube, Volkslied u. a.) mehr gepflegt finden als beim männlichen Geschlechte. – Die zunehmende Bildung, d. h. die logische Schulung des Verstandes, drängt die psychische Assoziation immer mehr zurück. Infolgedessen gewähren höher gebildete Völker oder Stämme weniger Material zur Volkskunde als Völker niederer Kulturstufe. Unstreitig ist die allgemeine Bildung der ärgste Feind alles dessen, was wir als Äußerungen der Volksseele in diesem Sinne aufzufassen pflegen. Aus der assoziativen Denkform erklären sich auch die großen Übereinstimmungen geistiger Erzeugnisse der verschiedensten Völker, die der Kulturvölker mit denen der Naturvölker. Denn die Wirkung der Umgebung auf den Menschen ist im Grunde genommen bei allen gleich oder ähnlich, nur die Form der Wiedergabe ist je nach der Gemütsanlage der Völker verschieden. Wir finden bei dieser Auffassung vom Wesen der Volkskunde auch den Grund, warum in ihr das Gemütsleben der Völker eine so wichtige Rolle spielt. Der Naturmensch faßt die Erscheinungen der Außenwelt mit dem Gefühl auf; sie beherrschen seine Seelenstimmung, und in der jeweiligen Seelenstimmung gibt er sie wieder. Aus den gleichen Wirkungen der Außenwelt auf die menschliche Seele erklärt sich auch der kollektive Charakter der Erzeugnisse des Volksgeistes, der bei gemeinsamer Abstammung und dem dadurch bedingten Volkscharakter auch in der Form zum Ausdruck kommt. Bei der assoziativen Denkweise treten die geistigen Erzeugnisse des Einzelnen, tritt die Individualität vollständig zurück. Daß die verschiedenen geistigen Erzeugnisse, die wir zu den Materien der Volkskunde rechnen, nicht von der Masse, sondern von einer bestimmten Persönlichkeit ausgehen, wissen wir alle. Ja hier und da können wir sogar die Persönlichkeit nachweisen, wie es bei verschiedenen Volksliedern, bei Hausinschriften, bei Werken der Volkskunst der Fall ist. Da aber diese geistigen Erzeugnisse ohne jede Reflexion, vielmehr ganz im Fühlen und Denken des Ganzen, des Volkes gestaltet worden sind, rechnen wir sie ebenso zu den Erzeugnissen des Volksgeistes wie die andern, deren Urheber wir nicht kennen. Nicht das Individuum schlechthin darf daher als Quelle volkskundlichen Stoffes verworfen werden, sondern die Individualität, aus der der reflektierende Verstand spricht. Aus dieser Auffassung vom Wesen der Volkskunde erklärt sich endlich auch mit Leichtigkeit, unter welchen Bedingungen Werke individueller Geistesarbeit zu Materien der Volkskunde werden können. Wir wissen, daß manches Werk der Volkskunst, die Volkstrachten, volkstümliche Bauweisen, aber auch Lieder, Sprichwörter, ja selbst viel Aberglaube und Sitte auf Erzeugnisse einer höheren Kultur, auf individuelle Geistesarbeit zurückzuführen sind. Solange diese den Stempel reflektierender Geistesarbeit zeigen, gehören sie dem Gebiet der Kulturgeschichte, nicht der Volkskunde an. Sobald aber der Naturmensch seine Freude und Wohlbehagen daran findet und sie in diesem Gefühle aufnimmt und umgestaltet, treten sie in den Kreis volkskundlicher Objekte. Das assoziativ denkende Volk bildet nicht nach, sondern es ahmt nach; die Umgestaltungen entspringen nicht reflektierender Geistestätigkeit, sondern einer Geistestätigkeit, die von Empfindungen und Gefühlen geleitet wird.
Nach diesen Darlegungen können wir das Gebiet und somit auch die Aufgaben der Volkskunde schärfer umgrenzen. Danach hat die wissenschaftliche Volkskunde als Objekt ihrer Forschung die geistigen Erzeugnisse eines Volkes, die durch psychische Assoziation entstanden und durch diese fortgepflanzt bezw. verändert worden sind. Unter dem „Volk“, dessen Erzeugnisse zu erforschen sind, verstehen unsre Vereine bald eine ethnographische,
Oskar Dähnhardt (Red.): Mitteilungen des Verbandes deutscher Vereine für Volkskunde Nr. 6. Richard Hahn (H. Otto), Leipzig 1907, Seite 5. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Mitteilungen_des_Verbandes_deutscher_Vereine_f%C3%BCr_Volkskunde_6.djvu/5&oldid=- (Version vom 1.8.2018)