II. Der Volksglaube bildet den Übergang zu dem 3. Hauptabschnitt. Soweit er durch das Wort zum Ausdruck kommt, gehört er zu I, soweit er dagegen aus der Handlung, aus Sitte und Brauch spricht, zu III. Ich möchte ihn in einem besonderen Abschnitt behandelt sehen. Freilich ist es nicht leicht, eine Grenze zwischen dem Aberglauben schlechthin und dem abergläubischen Brauch zu ziehen. Daher findet man meist diese beiden Dinge getrennt, den Aberglauben zerrissen. So will z. B. Weinhold den Aberglauben unter der Religion (II, 3) behandelt sehen, verlangt aber auch bei der Lebenssitte (II, 1) Jägeraberglauben, Aberglauben der Handwerksburschen, Behandlung des Bauernkalenders u. a. Ebenso findet sich in dem Entwurf zu volkskundlichen Stoffsammlungen, den mir Brenner zugeschickt hat, neben dem Hauptabschnitt III: „Aberglaube“ unter II: „Sitte und Brauch“ die Abteilung: „Abergläubische Bräuche“. Am besten, glaube ich, kommen wir aus, wenn wir einen Unterschied zwischen lebendigem und totem Aberglauben machen. Unter jenem verstehe ich alle Worte und Handlungen, aus denen noch alter Glaube an die Abhängigkeit des Menschen von der Außenwelt, von seiner Umgebung spricht, unter dem toten Aberglauben dagegen den, wo jede Glaubensvorstellung im Laufe der Zeit vergessen ist, wo alter Ritus nur in der volkstümlichen Sitte fortlebt. Angang, Tagewählerei, Traumdeuterei u. dgl. sind lebendiger Aberglaube, Frühlings- und Johannisfeuer, der Schlag mit der Lebensrute, das Essen der Ostereier u. a. dagegen toter; hier hat sich alter Kult oder Ritus nur noch als volkstümliche Sitte erhalten, und niemand ahnt noch, daß diese einst der Ausdruck von Glaubensvorstellungen gewesen ist. Dabei gehe ich natürlich von der Gegenwart aus. Denn verfolgen wir diese volkstümliche Sitte in der Zeit zurück, so können wir wohl auf Zeugnisse stoßen, aus denen auch noch bei ihr der Volksglaube spricht.
Abschnitt II hat demnach zu behandeln den lebendigen Aberglauben oder richtiger den Volksglauben. Hierher gehört der Glaube an die Einwirkung der Natur, des Himmels, der Gestirne auf die Geschicke des Menschen, der Seelen- und Geisterglaube, der Aberglaube, der sich an die einzelnen Tage des Jahres, an die Hauptereignisse im menschlichen Leben, an die einzelnen Stände und Berufe knüpft, die volkstümliche Heilkunst, soweit sie im Aberglauben wurzelt, die Prophetie, der Zauber u. dgl. Aber auch die volkstümliche Auffassung von Gott, Welt, Religion, dem Leben nach dem Tode, die von der Lehre des christlichen Dogmas vielfach abweicht, gehört in dies Kapitel.
In Abschnitt III sind die Äußerungen der Volksseele durch die Handlung zu gruppieren. Er handelt also von Sitte und Brauch und zwar:
1. in der sozialen Vereinigung des Volkes (in der Familie, im Alltagsleben, bei besonderen Ereignissen, an den Festtagen; unter den verschiedenen Altersklassen, den verschiedenen Gesellschaften, Ständen, Berufen) und
2. in der politischen Vereinigung, der Gemeinde, dem staatlichen Zusammenschluß. Hierher gehören vor allem das volkstümliche Recht (Weistümer) und die Rechtsgewohnheiten (Hausmarken, Kerbholz u. a.), die aus dem Rechtsgefühl des Volkes herausgewachsen sind.
Abschnitt IV endlich sammelt die Äußerungen der Volksseele in den Werken, den Erzeugnissen volkstümlicher Arbeit. Hier kommen in Betracht:
1. die Wohnung (Haus und Hof) mit ihrer Einrichtung und Ausschmückung, mit ihren Geräten, die für den Alltagsbedarf und zur Erhaltung des Lebensunterhaltes notwendig sind. Besondere Beachtung verdient dabei die Volkskunst und die volkstümliche Hausarbeit;
2. die Kleidung (die Alltags- und Festtagstracht, der verschiedenen Altersstufen, bei besonderen Gelegenheiten, der Schmuck u. a.);
Oskar Dähnhardt (Red.): Mitteilungen des Verbandes deutscher Vereine für Volkskunde Nr. 6. Richard Hahn (H. Otto), Leipzig 1907, Seite 7. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Mitteilungen_des_Verbandes_deutscher_Vereine_f%C3%BCr_Volkskunde_6.djvu/7&oldid=- (Version vom 1.8.2018)