Wandel der Zeiten unterworfen ist, so sind es auch die Volksseele und ihre Erzeugnisse. Manches, das wir heute zum festen Bestand volkskundlicher Forschung rechnen – ich erinnere an die Trachten, das Weihnachtsfest, historische Volkslieder –, ist in nachweisbarer Zeit entstanden und hat sich in der immer tätigen Volksseele vielfach verändert. Dieser historische Entwicklungsprozeß muß verfolgt und klargelegt werden, wenn wir die Volkskunde von einem lehrreichen Sport, was sie heute noch vielfach ist, zu einer ernsten Wissenschaft erheben wollen. Um in ihn aber einzudringen, müssen zunächst die volkskundlichen Zeugnisse aus Schriftstücken vergangener Jahrhunderte, aus den Werken der Schriftsteller, Zeitschriften, Urkunden, Briefen u. dgl. ausgezogen und gesammelt werden, von Cäsar und Tacitus bis zu den Schriftstücken der jüngsten Vergangenheit. Hier ist noch ein weites Arbeitsgebiet, denn nur wenig ist in dieser Beziehung getan (die Arbeiten von A. Kauffmann, Liebrecht, Schönbach u. a. können als Vorbild dienen). Aber die Arbeit läßt sich bewältigen, wenn nur mit vereinten Kräften der Einzelvereine planmäßig und energisch vorgegangen wird. Nur darf man nicht vor der Zeit mit der Verarbeitung des Materials beginnen; der Drang nach vorzeitigen Publikationen schadet mehr, als daß er die Sache fördert. Die Preußische Akademie der Wissenschaften mag uns hier als Vorbild dienen: sie schafft zunächst getreue Ausgaben unsrer Schriftsteller, die einst bei der Bearbeitung eines großen deutschen Wörterbuchs die Grundlage der Sammelarbeit bilden sollen. Ernten wir auch nicht die Früchte unsrer Arbeit, so bestellen wir doch das Feld in einer Weise, die zukünftigen Geschlechtern reichen Ertrag sichert. Erst wenn die Zeugnisse früherer Zeiten zusammengetragen und mit denen der Gegenwart verknüpft sind, läßt sich in streng historischer Methode eine Darstellung der deutschen Volksseele in Sprache, Glauben, Sitte und Brauch und Werken geben und fremder Einfluß vom heimischen Gut scharf scheiden.
Um die vielen und großen Aufgaben, die dem Verbande bevorstehen, erfüllen zu können, müssen wir zunächst danach trachten, möglichst alle Vereine, die die volkskundliche Forschung auf ihr Programm geschrieben haben, in unsern Verband hereinzuziehen. Es muß alles aufgeboten werden, um Hindernisse, die zwischen dem Verband und dem einen oder andern Vereine stehen, zu beseitigen. Aus den Akten ergibt sich nun, daß die Höhe des jährlichen Beitrags ziemlich viele Vereine abgeschreckt hat, in den Verband einzutreten. Wir hoffen, daß sich ein andrer Modus der Beitragszahlung finden läßt, damit dieser wenigstens kein Hindernis mehr sei, sich dem Verband anzugliedern. Freilich müßte man dann darauf sinnen, dem Verbande auf andre Weise Mittel zuzuführen, denn mit der Ausdehnung des Arbeitsgebietes wachsen auch die Ausgaben des Verbandes.
Während wir noch in der Entwicklung begriffen sind, geht uns der Plan zu einer internationalen Vereinigung der Vereine für Volkskunde zu. Daß uns auf diesem Gebiete wissenschaftlicher Arbeit andre Völker voraus sind, weiß jeder, der die Verhältnisse kennt. Was hat nicht alles schon die englische Folklore Society geschaffen! In den skandinavischen Ländern gibt es schon länger an den Universitäten Lehrstühle für volkskundliche Forschung. Von hier aus geht auch der Aufruf zum Zusammenschluß.
Im vergangenen Sommer reiste Kaarle Krohn, der bekannte Kalewalaforscher und Professor der finnischen Volkskunde in Helsingfors, durch Skandinavien und Deutschland, um sich mit Vertretern der Volkskunde, besonders mit A. Olrik in Kopenhagen, über diese Angelegenheit zu besprechen. Krohn und A. Olrik haben nun einen
Oskar Dähnhardt (Red.): Mitteilungen des Verbandes deutscher Vereine für Volkskunde Nr. 6. Richard Hahn (H. Otto), Leipzig 1907, Seite 9. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Mitteilungen_des_Verbandes_deutscher_Vereine_f%C3%BCr_Volkskunde_6.djvu/9&oldid=- (Version vom 1.8.2018)