wie keine andere Gegend Mecklenburgs (hier hat unser großer Landsmann Schliemann die glühende Liebe zur Wiedererweckung vergangener Herrlichkeit in sich aufgenommen) hielt die schaffende Phantasie des Volkes rege. Auch die durch Oestens Grabungen teilweise schon bestätigten Berichte der Fischer und Steinfahrer über Reste alter Dammanlagen in der Lieps gaben der Überlieferung immer wieder neue Nahrung.
Es ist in hohem Grade beachtenswert, wie sehr hier die Sagen z. B. von der wilden Jagd, vom Mart, vom Drak, von Werwölfen und andere Sagenkreise, die sonst fast überall in Mecklenburg einen breiten Raum einnehmen, zurücktreten. Aber von Raubrittern, von Burgen und Schätzen wird nirgends so viel erzählt wie hier. Und das große Sammelbecken ist immer wieder der Sagenkreis von Rethra. Erst ein genauer Einblick in das ganze Sagennetz einer Gegend gibt sichere Grundlagen für das Urteil über Alter und Bedeutung der einzelnen Sagenzüge.
Freilich je mehr von dieser Sagenmasse ans Licht kommt, desto schwerer wird es, das dichte Gewebe zu entwirren: die Fäden schlingen sich hinüber und herüber. An Überraschungen wird man gewöhnt. Fast jeder neue Fund beleuchtet einen früheren. Kleine unbedeutende Züge gewinnen plötzlich Wert. Und der scheinbare Gegensatz mancher Sagen löst sich auf, sobald man davon absieht, die Richtigkeit aller Angaben an Thietmars Bericht zu messen, der doch nur nach Hörensagen schildert und im wesentlichen nur den einen Tempel im Auge hat. Aber auch an allerlei seltsamem Rankwerk, an Anachronismen, volksetymologischen Deutungen usw. fehlt es wie bei jedem größeren Sagenkreise nicht. Prill z. B. der angebliche Erbauer von Prilwitz, wird mit Till, d. h. Tilly, dem Eroberer Neubrandenburgs, zusammengeworfen u. a. m. Ich werde später alle solche Entgleisungen sorgfältig buchen, sie gehören mit zum Bilde; daß sie den Wert der Hauptmasse nicht im mindesten in Frage stellen können, ist selbstverständlich. Und noch eins sei betont: die Möglichkeit, daß Einzelzüge auf gelehrtem Wege sich in die Volkssage eingeschlichen haben, muß natürlich stets im Auge behalten werden. Die Frage endlich, ob besonders altertümliche Sagen in die vorslavisch-germanische Zeit zurückreichen, ist sehr schwer zu entscheiden; darauf kann ich hier nicht näher eingehen. Daß die ganze Gegend schon in vorslavischer Zeit stark besiedelt gewesen ist, lehren noch heute vorhandene Grabanlagen und prähistorische Funde mannigfacher Art.
Nach diesen allgemeinen Bemerkungen gehe ich dazu über, von dem Inhalt der Sagen ein ungefähres Bild zu geben. Ich kann hier nicht vollständige Sagen mitteilen; ich fasse nur kurz die bisherigen Ergebnisse zusammen, die natürlich durch neue Funde noch wesentlich erweitert und berichtigt werden können.
Da hier eine Karte des Sagengebietes nicht beigegeben werden kann, so nenne ich kurz die wichtigsten Namen: Ortschaften am Tollenseufer westlich von Neubrandenburg: Broda, Meiershof, Rehse, Wustrow; östlich von Neubrandenburg: Klein-Nemerow. In der Tollense bei Wustrow: die Fischerinsel. Ortschaften am Liepsufer: westlich Zipplow, Prilwitz (dahinter Hohenzieritz usw.); an dem Südufer: Eliasbach, Pferdeberg und Blankenburgsteich (dahinter die Meierei Ehrenhof); am östlichen Ufer Usadel (dahinter der Zechow-Wald). Zwischen der Lieps und der Tollense (mit Verbindungsgräben) das Liepser Bruch, östlich davon Krickow. Im Liepssee die Inseln Kietzwerder (vor Prilwitz) und Hanfwerder (vor dem Liepser Bruch).
Oskar Dähnhardt (Red.): Mitteilungen des Verbandes deutscher Vereine für Volkskunde Nr. 8. Richard Hahn (H. Otto), Leipzig 1908, Seite 24. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Mitteilungen_des_Verbandes_deutscher_Vereine_f%C3%BCr_Volkskunde_8.djvu/24&oldid=- (Version vom 1.8.2018)