Zeit; sie können wir nur entziffern aus den Uberlebseln, die die Völker aus ihrer Jugend jahrtausendelang namentlich in Sitte und Brauch erhalten haben. So hat die Religionsgeschichte aller Kulturvölker durch die Volkskunde einen neuen Aufschwung genommen. Ganz besonders ist er in der der klassischen Völker, vor allem der Griechen, zu beobachten. Usener, Erwin Rohde, von den jüngeren besonders der leider zu früh verschiedene Albr. Dieterich haben die griechische Mythologie, haben die antiken Lebensanschauungen mit dem Volkstum der Gegenwart verquickt und so einen frischen Zug in das Studium des klassischen Altertums gebracht und es dem Fluch des Epigonentums entrissen. Unter dem Einflusse der Volkskunde löst sich das, was man einst als Mythologie auffaßte, einerseits in Religionsgeschichte auf, anderseits in Göttersage und Göttermärchen.
Auch an der Heldensage ist die Volkskunde nicht spurlos vorübergegangen. Wohl herrscht noch vielfach die Anschauung, daß die Heldengestalten verblaßte Götter seien, allein die volkskundlichen Forschungen A. Olriks und die völkerpsychologischen Beobachtungen Wundts haben ihr ganz den Boden entzogen. Schon klopft die Volkskunde bei der literarischen Forschung an. Ich meine hier nicht bei der Behandlung des Märchens, der Sage, des Volksliedes; diese Dichtungsarten sind volkskundliche Objekte und sind als solche immer behandelt worden. In seiner Prager Rektoratsrede verlangt Sauer als Vorbedingung aller literargeschichtlichen Forschung gründliches Studium des Volkstums, das jeder Dichter aus seiner Heimat, aus seiner Familie mitgebracht hat; er erhofft hieraus eine Regeneration der Literaturgeschichte. – Und was von der Literaturgeschichte gilt, gilt noch mehr von der Kultur-, von der Staatengeschichte. Hier lehrt uns die Volkskunde den Boden kennen, auf dem allein die individuelle Begabung und Ausbildung auf Erfolg rechnen kann. Denn kein Talent hat Erfolge, wenn seine Ideen nicht Anerkennung, nicht ein Echo in der Seele seines Volkes finden. In Erkenntnis dieser Tatsache hat Lamprecht in Leipzig für sein neubegründetes kulturhistorisches Seminar eine besondere Abteilung für das Studium der Volkskunde geschaffen. Ich erinnere ferner an die Bedeutung, die volkskundliche Tätigkeit für die Sprachwissenschaft, für die Geschichte unsrer Muttersprache hat. Was dieser die Volkssprache, der Dialekt leisten kann, ist schon vor 100 Jahren von Schmeller erkannt. Aber erst in den letzten Jahrzehnten ist man seinem Fingerzeig gefolgt, und unter dem Einflusse der volkskundlichen Bewegung hat man in den verschiedenen Ländern deutscher Zunge begonnen, den dialektischen Wortschatz zu sammeln und in diesen Wörterbüchern zugleich die Zeugnisse volkstümlichen Denkens, Tun und Handelns aufzuschichten. In mustergültiger Weise haben die Schweizer mit ihrem Idiotikon den Anfang gemacht; Elsaß, Schwaben sind nachgefolgt, bei den Siebenbürger Sachsen, in den Rheinlanden, in Sachsen, Thüringen, Schleswig-Holstein ist man rüstig an der Arbeit, an der das ganze Volk teilnehmen soll, und es ist zu hoffen, daß auch die andern Teile unsers Vaterlands, besonders auch die Deutschen in Österreich, noch folgen. Die Arbeit für die Dialektforschung zu konzentrieren und so die Wege zu einem großen deutschen Dialektwörterbuche zu bahnen, das wäre eine Aufgabe des Verbandes der deutschen Akademien, ganz im Sinne ihres Stifters Leibnitz. Leider hat unser Volk und unsre Wissenschaft von dieser Seite nicht viel zu hoffen, worauf erst jüngst wieder von berufener Seite hingewiesen worden ist. Hier ist auch die Forderung gestellt worden, daß alle philologische
Oskar Dähnhardt (Red.): Mitteilungen des Verbandes deutscher Vereine für Volkskunde Nr. 8. Richard Hahn (H. Otto), Leipzig 1908, Seite 7. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Mitteilungen_des_Verbandes_deutscher_Vereine_f%C3%BCr_Volkskunde_8.djvu/7&oldid=- (Version vom 1.8.2018)