allem die letzte Hälfte, ganz besonders stark aber das letzte Drittel des vergangenen Jahrhunderts bis zum Ende des Weltkrieges ist eine Epoche neuesten, furchtbaren Martyriums des östlichen Judentums.
An den Namen des Ministers Plehwe und des Oberprokurators der heiligen Synode Pobjedonosczew vor allen knüpften sich die Tendenzen und die Maßregeln entsetzlicher Unterdrückung des russischen Judentums durch die Gesetzgebung, durch die Verwaltungspraxis, die willkürlich die Gesetzgebung noch verschärfte, und durch Abschlachtung und Ausplünderung der Juden, seitens des Verbrechertums und des Mobs der Städte, die von den russischen Behörden des Zarentums je nach Bedürfnis aufgestachelt, geleitet und vorübergehend dann auch wieder bei ihren Mord- und Raubzügen unterdrückt wurden.
Judenprogrome waren in jener Zeit ein stets parates Aushilfsmittel zur Bereicherung für die russische Bureaukratie und zur Ueberwindung politischer Schwierigkeiten der inneren russischen Politik. Diese Politik des Verbrechens im Dienste des Zarentums kostete zehntausenden von Juden das Leben, brachte über hunderttausende von Juden Verwundung, Verstümmelung, bleibendes Siechtum und durch die Plünderungen äußerste wirtschaftliche Not und wirtschaftlichen Zusammenbruch.
Auf die Zustände, die sich damals herausgebildet haben, gehen in ihrem Ursprung die charakteristischen Erscheinungen zurück, die noch heute dem Ostjudenproblem seinen eigenartigen Charakter aufdrücken.
Waren durch eine Entwicklung von Jahrhunderten die Juden überall und so auch im Osten von dem Betriebe der Landwirtschaft fast vollkommen ausgeschlossen worden, so kam in Rußland hinzu, daß dort
Paul Nathan: Das Problem der Ostjuden. Philo Verlag und Buchhandlung GmbH, Berlin 1926, Seite 11. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Nathan-Das_Problem_der_Ostjuden_(1926).djvu/11&oldid=- (Version vom 1.8.2018)