die Institution des Ghetto rund ein Jahrhundert länger aufrecht erhalten worden ist, als im übrigen Europa.
Der Charakter des russischen Ghetto entsprach nicht vollkommen den verwandten westeuropäischen Einrichtungen.
In Rußland waren die Juden durch die historische Entwicklung im Wesentlichen in den ursprünglich polnischen Gebieten ansässig, vor allem also in jenen Gegenden, die sich längs der Westgrenze des Polenreiches hinziehen. Einzelne Gruppen waren tiefer in das Innere vorgestoßen, so vor allem in die Hauptsitze des Handels und Verkehrs nach Petersburg, nach Moskau und nach Odessa. Allein diese vorgeschobenen jüdischen Kolonien waren doch nur vereinzelte Inseln im riesigen Meer des Ostreiches, in ihrer Existenz immer wieder leicht bedroht, zu hunderten und tausenden ausgewiesen, wenn auf eine Zeit milderer Praxis seitens der Bureaukratie wieder Zeiten ausgesprochener Judenverfolgung einsetzten. Im wesentlichen waren es nur Kaufleute erster Gilde, also die reichen Juden; Juden, die die Berechtigung für die Universität hatten; Handwerker, die ihr Handwerk praktisch ausübten, auch Hebammen, die den Judenrayon verlassen durften. Aber auch diese Normen wurden bei dem Charakter der russischen Bureaukratie, bald einengend, bald mit einer gewissen Lässigkeit die Bestimmungen erweiternd und unter Beihilfe von Bestechungen durchbrochen.
Als Ergebnis bildete sich heraus, daß in den Westgebieten Rußlands die Masse der Juden zusammengedrängt saß, und daß mit der fortschreitenden Reaktion, die Juden auch vom flachen Lande vollkommen, aus den Dörfern vollkommen und auch in weiterem Umfange aus den kleineren Städten gewaltsam heraus-
Paul Nathan: Das Problem der Ostjuden. Philo Verlag und Buchhandlung GmbH, Berlin 1926, Seite 12. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Nathan-Das_Problem_der_Ostjuden_(1926).djvu/12&oldid=- (Version vom 1.8.2018)