Das Zarentum hatte die russischen Juden entlang der deutschen und der österreichischen Grenze gewaltsam zusammengepfercht, und nunmehr glaubte die russische Regierung die Entdeckung machen zu müssen, daß diese von der russischen Regierung auf das Entsetzlichste malträtierten Juden zu den getreuesten Untertanen Seiner Majestät des Zaren wohl nicht zu zählen sein würden. Ohne jeden strickten Beweis, allein auf die Vermutung hin, daß die verfolgten, mißhandelten, gesetzlich mit Füßen getretenen Juden in dem Rayon wohl schwerlich unbedingte Anhänger des Zaren sein würden, wurde die Abschiebung dieser Massen in das Innere Rußlands, dessen Betreten ihnen bisher verboten war, beschlossen und bei der Annäherung der deutschen Heere zur Durchführung gebracht.
Wie Vieh wurden die Juden, deren man habhaft werden konnte, zusammengetrieben. Kinder und Greise, Frauen und Männer, Kranke und Sieche, Wöchnerinnen und junge Mädchen, Gesunde und Sterbende und die Ansteckung weiter Tragende wurden von der Soldateska verfrachtet nach dem Innern Rußlands hinein. Ihre kleinen Häuser, wenn sie welche besaßen, ihr Besitztum, ihre Werkzeuge, alles, was sie in einem mühseligen Leben zusammengebracht hatten, mußte im Allgemeinen zurückgelassen werden. Die meisten dieser Vertriebenen gingen einer völlig vagen Zukunft, vielfach bettelarm entgegen. Wer nicht unterwegs starb, stand einer Zukunft in einer feindlichen Fremde meist ohne alle Hilfsmittel gegenüber.
Bei solchem Ausblick in die Zukunft floh ein großer Teil jener Juden, die abgeschoben werden sollten, in die polnischen und litauischen Wälder, um erst wieder in die heimatlichen Ortschaften zurückzugehen, nachdem die Truppen des Zaren abgezogen und die deutschen und österreichischen Truppen die verlassenen
Paul Nathan: Das Problem der Ostjuden. Philo Verlag und Buchhandlung GmbH, Berlin 1926, Seite 15. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Nathan-Das_Problem_der_Ostjuden_(1926).djvu/15&oldid=- (Version vom 1.8.2018)