Staaten. Damit ist in Rußland ein ungeheurer Fortschritt erzielt. Die Gleichheit aller Bewohner Rußlands vor dem Gesetz ist verfassungsmäßig eine Tatsache geworden, und so ist ein durchgreifender, ein ungeheurer Wandel für die russischen Juden erzielt. Das ist mit letzter Klarheit, ohne jede Einschränkung anzuerkennen.
Die Feststellung dieser Tatsache bedeutet aber nicht, daß die Lage der russischen Juden in Sowjet-Rußland nunmehr in jeder Beziehung eine befriedigende ist. In zwei Richtungen bestehen ernste Schwierigkeiten.
Die Regierung der Sowjet-Republiken glaubt ihr Staatsideal nur verwirklichen zu können, indem sie die altüberkommenen religiösen Anschauungen zurückdrängt, zu beseitigen sucht; das geschieht gegenüber allen ihren Bürgern, und damit auch gegenüber den jüdischen Sowjet-Bürgern.
Unter dieser Staatsanschauung leidet der orthodoxe Jude in Rußland schwer, wie der streng religiöse Mensch jeder anderen Konfession. Nur im Geheimen kann der strenggläubige Jude und der strenggläubige Christ seine religiösen Verpflichtungen, die ihm heilig sind, erfüllen. Diese Tatsache empfinden zahlreiche Juden in Rußland als ernste Bedrückung. Und doch ist diese Bedrückung von ganz anderer Art, als es die Vergewaltigungen zur Zeit des Zarentums gewesen sind. Damals litten die Juden, weil sie Juden waren; jetzt ist es den Orthodoxen erschwert, ihre Religion zu pflegen, weil die russische Regierung die Orthodoxie aller Bekenntnisse ohne jede Ausnahme in ihrer Betätigung und Entfaltung zurückzudrängen sucht. Nicht die Juden und die jüdische Religion werden verfolgt, sondern die Religiosität strenger Observanz aller
Paul Nathan: Das Problem der Ostjuden. Philo Verlag und Buchhandlung GmbH, Berlin 1926, Seite 20. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Nathan-Das_Problem_der_Ostjuden_(1926).djvu/20&oldid=- (Version vom 1.8.2018)