Bekenntnisse unterliegen gleicher Einengung. Von denselben Gedankengängen ist die Sowjet-Regierung beherrscht, wie die Machthaber der großen französischen Revolution, die gleichfalls die Religion abschafften, um ein philosophisches Gebilde, die Religion der Vernunft, zu proklamieren, die damals nur ein kurzes offizielles Dasein geführt hat, und die Masse des Volkes nie ausfüllte.
Das Leiden der jüdischen Orthodoxie in Rußland ist schwer; aber antisemitisch sind diese Maßregeln nicht gedacht; sie entspringen einer Weltanschauung, die die streng religiöse Richtung innerhalb des Judentums wie innerhalb des Christentums gleichmäßig trifft, und daher ist es denn auch nicht wunderbar, daß dieser Kampf gegen die jüdische Orthodoxie ganz wesentlich auch von jüdischen Radikalen innerhalb der Regierung in Moskau gefördert und immer wieder von Neuem angefacht worden ist.
Die beiden Prinzipien der Neuzeit, die einander gegenüberstehen, sind etwa folgendermaßen zu formulieren: Religion ist Privatsache, sagt die Demokratie unserer Tage. Die Sowjet-Republik aber, die den Bürger nach allen Richtungen hin, politisch wie wirtschaftlich, intellektuell wie gefühlsmäßig nach einem ganz bestimmten Ideal, nach ihrem Ideal zu modeln und zu formen sucht, - sie sagt, den Menschen, den wir bilden wollen, können wir nicht den starken religiösen Einwirkungen aus vergangenen Zeiten ausliefern, ohne befürchten zu müssen, daß unsere Aufzüchtung des Menschen und Bürgers unserer Tage und jener Zukunft, die wir heraufführen wollen, Schiffbruch leidet.
Ob diese Stellungnahme falsch, ob sie im Interesse des russischen Staates richtig ist, darüber in eine Auseinandersetzung einzutreten, ist hier nicht die
Paul Nathan: Das Problem der Ostjuden. Philo Verlag und Buchhandlung GmbH, Berlin 1926, Seite 21. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Nathan-Das_Problem_der_Ostjuden_(1926).djvu/21&oldid=- (Version vom 1.8.2018)