Seite:OABalingen0115.jpg

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durch eine naive Naturwüchsigkeit zurückgehalten, welche dem auf der heimatlichen Erde Gebornen als das richtige erscheint, den Fremden aber nicht immer angenehm berührt. Der Ausdruck der Empfindungen und Gefühle ist ein derber, aber nicht aus Mangel an Gefühl oder gar bösem Willen, sondern mehr aus Unbeholfenheit und Mangel an Kultur. Ein starkes Selbstgefühl und Unabhängigkeitsbewußtsein hindert das Eindringen milderer Sitten und Gewohnheiten. Im politischen Leben überwiegt die Richtung der sogenannten Volkspartei, vertreten durch den in Ebingen erscheinenden Albboten; die Liebe zum gesammten deutschen Vaterland findet Vertretung im Amtsblatt des Bezirks, dem Volksfreund, welcher in Balingen erscheint. Beide Richtungen halten dabei fest an dem alten Spruch „hie gut Württemberg allewege“ und an der Liebe und Ehrerbietung zum angestammten Fürstenhause. Im kirchlichen Leben wird festgehalten an der überlieferten Sitte; sektirerische Bestrebungen finden nur ausnahmsweise Theilnahme, im allgemeinen steht der Sinn der Bevölkerung ihnen entgegen. Der Kunstsinn ist wenig entwickelt, wie auch künstlerische Industriezweige fehlen, mit einigen Ausnahmen in Orten des oberen Bezirks, wo die Feinmechanik eifrig betrieben wird zum gesegneten Andenken an den auch sonst hervorragenden früheren Pfarrer Ph. M. Hahn in Onstmettingen, nachher in Echterdingen. In Kirche, Schule und Haus macht sich noch viel Geschmacklosigkeit breit, welcher bei den dürftigen Vermögensverhältnissen nicht leicht zu begegnen ist. Der Bezirk hat einen nennenswerthen Dichter in der Reformationszeit hervorgebracht: den Sohn des selber von Balingen gebürtigen Pfarrers von Erzingen, Nikodemus Frischlin, der mit trefflichen geistigen Gaben einen ungebändigten Sinn verband, vielfach ein Typus des Bezirkscharakters nach seinen Schattenseiten, während ein berühmter Theologe der neuen Zeit, der erst jüngst verstorbene Balinger Tobias Beck, Professor in Tübingen, als Typus gefaßt werden kann des mit Energie gepaarten Gemüthslebens, das keineswegs dem Bezirke fehlt. Die Kunst des Gesanges wird in manchen Orten und Schulen gepflegt, in welchen natürliche Begabung der Übung zur Seite tritt. Den Gesangvereinen, welche mit redlichem Streben der Kunst aufzuhelfen suchen, ist fröhliches Gedeihen zu wünschen. Geselliges Leben pflegen weiter die an manchen Orten bestehenden Kriegervereine. Die Ortsleseanstalten, welche in allen Orten sich finden und zahlreich benützt werden, tragen Vieles zur Hebung des Volkscharakters

Empfohlene Zitierweise:
Julius Hartmann, Eduard Paulus: Beschreibung des Oberamts Balingen. W. Kohlhammer, Stuttgart 1880, Seite 115. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:OABalingen0115.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)