Ferdynand Antoni Ossendowski: Schatten des dunklen Ostens | |
|
Dieser Diebstahl ähnelt einer Art Raubrittertum und wird als ein Beweis von Geschicklichkeit und Mut angesehen. Bei einem solchen Unternehmen ist der Pferdedieb gezwungen, nur auf sich allein zu bauen, da er das Recht und alles, was ihn sonst an das Leben bindet, mit Füßen tritt.
Das mongolische Recht aus den Steppen der Wolga und das der Indianer Nordamerikas betonen ausdrücklich den Pferdediebstahl als besonders schweres Verbrechen.
Die Ausübung dieses Strafrechtes ist dunkel. Es bleibt dem Beschädigten anheimgestellt, in beliebiger Weise sein Pferd zurückzuerobern und selbst den Dieb zu bestrafen.
So geschieht es zumeist, daß der beim Pferdediebstahl Ertappte in geradezu grauenhafter Weise unter der Lynchjustiz der Empörten zugrunde geht, während die Behörden dieses unbefugte Standgericht aus Gewohnheitsrecht stillschweigend anerkennen, ohne besonders gegen diese Gesetzesverletzung einzugreifen.
Gelingt es dem Bestohlenen nicht selbst, des Diebes habhaft zu werden, so geht man zum Zauberer, dem „Koniewik“, der sich für die Auffindung von Pferdedieben spezialisiert hat.
In der Nacht kommt der Bestohlene zum Zauberer und bringt Hafer, Mist und den Zaum des gestohlenen Tieres mit.
Im Waldaier Bezirke, im Gouvernement Nowgorod, wurde ich selbst Zeuge solchen Umtriebes.
Um zehn Uhr abends kommen wir mit dem Bestohlenen zum Zauberer, an seine Tür klopfend. Noch bei geschlossener Türe befiehlt der Zauberer dem Bauer, Hafer an der Außenseite der Hütte in jede Ecke zu streuen und mit dem Zaum des verschwundenen Pferdes an das einzige Fenster der Hütte, das nach Osten blickt, anzuschlagen.
Es geschieht; das Fenster wird hell und wir dürfen eintreten.
Schwül und stickig ist der niedere, trüb erhellte Raum.
Im Ofen, der aus roh zusammengefügten, geborstenen Steinen gefügt ist, raucht ein Pechkien.
Der blutige Feuerschein beleuchtet unruhig die Decke des Raumes, von der die Zäume, die Schweife und Häute von Pferden zwischen getrockneten Kräutern und schwarzen gefüllten Beuteln niederhängen.
Der Zauberer, ein kleines graues Männlein, mit offenem Munde, der schwarze, verfaulte Zähne zeigt, und mit schielenden, starren Augen, kauert beim Ofen.
Ferdynand Antoni Ossendowski: Schatten des dunklen Ostens. Eurasia, Wien 1924, Seite 20. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ossendowski_-_Schatten_des_dunklen_Ostens.djvu/24&oldid=- (Version vom 15.9.2022)