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Ferdynand Antoni Ossendowski: Schatten des dunklen Ostens

Kulte, Vorurteile vom Horizont verschwinden? Hätte es nicht ein Ende nehmen müssen mit allen Zauberern, Wahrsagern, Hexen und Priestern der alten Götter?

Das Bild aber, welches sich uns bietet, ist ein anderes, als es die logische Folge bedingt hätte.

Noch nie hat das Ansehen und der Ruhm der Kirche in einer solchen Blüte gestanden wie heute, noch nie hat ihr Zauber mit einer solchen mystischen Kraft geleuchtet, noch nie vorher haben die früher verborgenen Kirchensekten sich so entfalten können, noch nie waren die Mysterien der Selbstgeißler so stark besucht, das Siegel der „weißen Taube“ so streng eingehalten, noch nie hat das einfache, ermüdete, verhungerte Volk sich so leidenschaftlich zu den Zauberern gedrängt und die Wahrsagekunst hatte noch nie einen so erstaunlichen Erfolg und eine solche Bedeutung im Leben der russischen Gesellschaft erlangt als gerade heute.

In den orthodoxen Kirchen lagen haufenweise ungezählte Menschenmengen mit ausgebreiteten Armen am Boden, Gott anbetend und ihn nicht mehr um das eigene, sondern um das Wohl und die Rettung des ganzen Landes anflehend.

Keine Verfolgung und kein Spott waren imstande, Schrecken einzujagen. Es gab Fälle, daß die Bolschewiken, als sie in Kirchen eindrangen und losfeuerten, sich umsonst mühten, die Betenden auseinander zu treiben. Alles war umsonst! Es gab keine Panik und die Menge hat sich beim Knallen der Schüsse kaum bewegt. In solchen Augenblicken konnte man sehen, wie Rußland im Mystizismus bereit war, den Märtyrertod für das Wohl der nächsten Generation zu erleiden.

Während einer Andacht in den Osterfeiertagen im Jahre 1919 sind die Bolschewiken in Moskau in eine Kirche eingedrungen, wo der allgewaltige Erzbischof Tichon in eigener Person die Messe las. Es hat sich niemand gerührt. Da gab einer der Kommunisten einen Schuß auf den Patriarchen ab und verwundete ihn an der Hand. Der Patriarch schaute sich nicht um und betete weiter, dann wendete er sich der Menge zu und begann das hohe religiöse Lied zu singen: „Christ ist erstanden!“ Eine Begeisterung ohne Grenzen bis zur Ekstase bemächtigte sich der Menge. Die Bolschewiken haben diese Stimmung des Volkes begriffen und die Kirche sofort verlassen.

In allen Sekten herrschte eine ähnliche religiöse Stimmung.

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Ferdynand Antoni Ossendowski: Schatten des dunklen Ostens. Eurasia, Wien 1924, Seite 82. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ossendowski_-_Schatten_des_dunklen_Ostens.djvu/86&oldid=- (Version vom 15.9.2022)