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Seite:Pan (6. Juni 1912).djvu/14

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Alfred Kerr (Hrsg.): Pan (6. Juni 1912)

Neulich in Berlin mit seltsamer Wirkung vorgelesen.


Im Schoße der Familie
Von Alexander Solomonica

Der kleine Franz setzt sich in gedrückter Stimmung zu Tisch. Daran ist nicht die schlechte Note schuld, die er heute in der Schule erhalten hat, denn er ist entschlossen, sie für diesmal zu verheimlichen. Aber er kann trotz seiner dreizehn Jahre sehr wohl in den Gesichtern der Anwesenden lesen. Wenn sie auch scheinbar nur die Unfreundlichkeit zur Schau tragen, die ihm vertraut ist, so errät er doch, daß etwas Besonderes gegen ihn im Spiele sei.

Darüber macht er sich aber vorläufig keine Gedanken. Er ist hungrig und hat alle Ursache, aufgebracht zu sein, da es Erbsensuppe gibt, die er nicht leiden mag. In gewissen Dingen wird aber streng auf seine Erziehung geachtet; er bekommt also einen Teller voll Erbsensuppe. Die alte Frau, die sie ihm reicht, seine Stiefgroßmutter, hat ein eingefallenes Gesicht, etwas hervorstehende Augen und schmale welke Lippen. Sie ist adlig von Geburt, die Tochter eines Barons, den die Armut gezwungen hatte, einen Bürgerlichen zum Schwiegersohn zu wählen. Jedenfalls besitzt sie gute Umgangsformen. Ihr Mann aber war später gleichfalls verarmt. Der Großvater nimmt jetzt schüchtern an der Mahlzeit teil und führt mit seiner Frau eine trockene Unterhaltung. Auch Franzens Tante Luise ist zugegen, zum Leidwesen ihrer Eltern, die sie zu verheiraten wünschen. Ein etwa zwanzigjähriges, sehr dummes und häßliches Mädchen; nur die blonden Haare sind hübsch, dennoch weiß sie auf die Männer ihren Einfluß auszuüben.

Bei Tisch kümmert sich niemand um das Kind. Es stellt selbst die eine oder andere Frage, das geschieht aber gleichfalls in unfreundlicher Absicht. Die Suppe läßt es stehen, was mit Stillschweigen übergangen wird, dafür aber wird ihm die süße Speise entzogen. Doch plötzlich wendet ihm der Großvater seinen weißen buschigen Schnurrbart zu und fragt streng:

„Was gabs in der Schule? Prüfung, was?“

„Nein“, lügt Franz mit klarer Stirn.

Damit ist die Sache abgetan. Nachmittags ergibt sich für ihn die Gelegenheit, in die Küche zu schleichen und ein großes Stück der süßen Speise trotzalledem in seine Gewalt zu bekommen. Die Bosheit erwacht in ihm, während er sie ißt, so daß er eine Überraschung im Augenblick fast herbeisehnt. Da

Empfohlene Zitierweise:
Alfred Kerr (Hrsg.): Pan (6. Juni 1912). Hammer-Verlag G.m.b.H., Berlin 1912, Seite 828. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Pan_(6._Juni_1912).djvu/14&oldid=- (Version vom 1.8.2018)