Alfred Kerr (Hrsg.): Pan (6. Juni 1912) | |
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aber niemand kommt, nimmt er sich vor, später jede Schuld in Abrede zu stellen. Prügel hat er nur im äußersten Falle zu gewärtigen, da es sich um eine gesittete Familie handelt. Übrigens weiß er wohl, daß irgendwelche mächtigen Verwandten, die hier die Pension für ihn bezahlen, auch ein Wörtchen mitzureden haben.
Die Verwandten kennt er allerdings nur flüchtig und ist auf gut Glück diesen Großeltern ausgeliefert. Er hatte seit jeher wenig Sympathie für sie, war aber bereit, sich ihnen wie allen Menschen gegenüber anständig zu verhalten. Da er jedoch ihrer Feindseligkeit begegnet, hat er keinen Grund, tugendhaft zu sein. Zudem wird es deutlich genug zum Ausdruck gebracht, daß man ihn für einen besonders ungezogenen Jungen ansieht. Auch pflegen die Großeltern seine Streiche überall auszuposaunen, daher hatte er ohne weiteres den Ruf eines Bösewichts erlangt. Er hält sich nun selbst für schlecht, nimmt es sich aber nicht zu Herzen, hat übrigens auch von seinen Gegnern nicht die beste Meinung. Da man ihm Mißtrauen zeigt, lügt er aus Notwehr; es gilt für ihn, auf jedes Wort, jede Geste der Erwachsenen zu achten, sich selbst keine Blöße zu geben und das, was Strafe verdient hat, zu verheimlichen. Gegen Verleumdungen jedoch vermag er sich nicht zu schützen. Er wird als miserabler Schüler hingestellt, obgleich er beinahe zu den guten zu rechnen ist. Franz hat seinerseits im Hause an manchem etwas auszusetzen, darf aber seine Meinung nicht frei heraussagen. Hier herrscht Unreinlichkeit, was ihn mit Ekel erfüllt, da er von Natur peinlich sauber ist. Es widerstrebt ihn, von schmutzigen Tellern zu essen; man zwingt ihn sogar aus Gläsern zu trinken, die kurz vorher ein anderer benutzt hat. Jeder Winkel in den alten Zimmern ist stauberfüllt, der Abtritt eine Hölle. Dabei sorgt man nicht ordentlich für seine Wäsche, so daß er sich langsam an die Umgebung gewöhnt. Der Knabe wird selbst liederlich, da er fühlt, daß sein Widerstand vergeblich ist. Nun zeigt man mit Fingern auf ihn, nennt ihn „ein Ferkel“. Franz kann jedoch den Zusammenhang nicht durchschauen, er schämt sich sogar zuweilen seiner schmutzigen Hände.
Nun lernt er aus einem großen Geographiebuche, vergißt aber dabei keinen Augenblick, daß er sich in Feindesland befindet. Er hat kein Kinderzimmer, sondern muß die Wohnstube mit den Erwachsenen teilen. Die Großmutter näht am selben Tisch und führt mit Luise ein Gespräch. Beide reden mit leiser Stimme, gleichwohl merkt er, daß die Luft nicht rein ist. Man hat es auf ihn abgesehen; er ist übrigens daran
Alfred Kerr (Hrsg.): Pan (6. Juni 1912). Hammer-Verlag G.m.b.H., Berlin 1912, Seite 829. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Pan_(6._Juni_1912).djvu/15&oldid=- (Version vom 1.8.2018)