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erblickte, gab sie alles her, was sie bei sich hatte, oder in den Schränken fand. Oft versammelte sie eine ganze Schar Bettler um sich, liess Thee kochen, schänkte ihn selbst jedem ein und entliess sie dann. Das letzte Stück Brod nahm sie sich vom Munde und teilte es unter die armen Gassenkinder aus. „Esst, ihr Brüderchen und Schwesterchen!“ sagte sie immer, „ich habe zu Hause noch genug, aber ihr habet nichts!“ Besonders wenn sie erfuhr, dass jemand krank sei, da liess sie ihrer Pflegerin, der Wittwe, keine Ruhe und sagte immer: „Mama, gehen wir den Kranken besuchen, vielleicht braucht der Arme einen Arzt und Medizin!“ Fast gewaltsam schleppte sie da die Alte ins Haus des Kranken und gab ihm alles, was er brauchte. Den Doktor liess sie in ihrem Wagen holen, bestellte Arzenei in der Apotheke, schickte dem Kranken Thee und Zucker. Was soll ich dir noch mehr von ihr erzählen? Die Geschichte dieses Mädchens nimmt sich fast wie ein Märchen aus.

„Ach, noch eins! Das hätte ich beinahe vergessen! Ja, weisst du, einmal, es war im Märzmonate, da kehrte meine Alte aus der St. Georgskirche heim. Der Tag war trübe und seit dem frühen Morgen sprühte ein feiner

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Rafael Patkanjan: Drei Erzählungen. Wilhelm Friedrich, Leipzig [1886], Seite 25. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PatkanjanDreiErz%C3%A4hlungen.pdf/35&oldid=- (Version vom 1.8.2018)