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Theologie studiert und war aus Begeisterung für Pestalozzi nach Iferten gewandert. Rachel war bis zum Jahre 1811 in seinem Amt soweit gekommen, daß er, der glücklich verlobte, 28 Jahre alte Mann, schon nahe der Heirat war. In dieser Stimmung schrieb er dem Jugendfreunde am 10. Juli 1811:

Geliebter Freund!

In den früheren Jahren meiner Liebe erhielt ich einmal von meiner treuen Emilie einige Blümchen, welche an ihrem schönen Busen während eines schönen heiteren Tages, den wir auf einem nahen Landguthe unter Freunden verlebten, geprangt hatten. Diese Blümchen suchte ich am Abend auf dem Heim­weg von ihr zu erlangen, und sie wurden, unter Glas und Rahmen, mein Heiligenbild, vor dem ich täglich die Gefühle der Liebe erneuerte. Mit diesen heiligen Sinnbildern habe ich nun die von Dir erhaltenen Schweizerblümchen vereinigt! Ja, geliebter Freund! Du konntest mir Tausende schenken, ich würde sie angestaunt, bewundert und annehmlich gefunden haben, aber jene schönen heiligen Gefühle, welche mich beim Anblick dieser Blumen ergriffen, hätten sie nicht erregt! Ich war ganz außer mir! In den ersten Tagen sah, hörte, fühlte ich nichts, als diese Blumen. Was diese Gefühle noch erhöhte, war, daß ich gerade in dieser Zeit die Julie von Rousseau las. Nein, Freund! Du kannst nicht inniger die Geisternähe des unsterblichen Mannes während Deiner Gegenwart auf der Petersinsel gefühlt haben, als ich beim Anblick dieser Blumen. Ich kann Dir versichern, daß ich mehrere Tage dazu nötig hatte, um das Gleichgewicht wieder herzustellen zwischen meinen Verhältnissen und den tobenden Wünschen, in Deiner Nähe zu sein, um all diese Schönheiten selbst zu sehen, selbst zu fühlen! – So mächtig regt sich das Gefühl in gleichgesinnten Seelen bei Gegenständen, für die sie gleich hohes Gefühl im Busen tragen!

Ach Freund! es gehört mehr Philosophie dazu, als Du wohl ahnen magst, zufrieden zu seyn, bey dem dringenden Wunsche, ganze Welten zu durchreisen, und sich fest an einen Ort gefesselt zu sehen, ohne je vorher das Glück genossen zu haben, nur einmal Gottes schöne Schöpfung im fernen Lande

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Paul Rachel: Altdresdner Familienleben. Verlag des Vereins für Geschichte Dresdens, Dresden 1915, Seite 19. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Paul_Rachel_Altdresdner_Familienleben.pdf/29&oldid=- (Version vom 2.3.2024)