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Philon: Über das Zusammenleben um der Allgemeinbildung willen (De congressu eruditionis gratia) übersetzt von Hans Lewy

Eifer gehe. Dann kommt sie ihnen nicht entgegen, sondern verhüllt ihr Antlitz, setzt sich wie Thamar[1] an einen Kreuzweg und verstellt sich vor den des Wegs Dahinziehenden, als sei sie eine Dirne (1 Mos. 38, 14. 15), damit die Eifrigen sie entschleierten und die unberührte, unbefleckte und wahrhaft jungfräuliche, herrliche Schönheit ihrer Züchtigkeit und Maßhaltung entdeckten und bewunderten. 125 Wer ist nun der wißbegierige Prüfer, für den es keine verhüllte Tatsache gibt, die er nicht einer Betrachtung und Durchforschung für würdig hielte? Kein anderer als der Hauptfeldherr und König, der treu bei seinen vor Gott geleisteten Versprechungen verharrt und sich an ihnen erfreut, mit Namen Juda[2]. Denn es heißt: „Er bog zu ihr vom Wege ab und sprach: Laß mich bei dir eintreten“ (ebd. 16), – er wollte sie also nicht dazu zwingen – um zu sehen, welches diese verschleierte Macht sei und wozu sie bereit ist. 126 Nach seinem Eintritt heißt es: „und umfing“ (ebd. 18).[3] Wer aber (umfing),[4] wird nicht ausdrücklich mitgeteilt; denn die Fertigkeit[5] umfängt und reißt den Lernenden an sich und sucht ihn dazu zu bewegen, sich ihr gegenüber wie ein Liebender zu verhalten, wie es auch der Lernende mit seiner Lehrmeisterin tut, wenn er das Wissen liebt.

Empfohlene Zitierweise:
Philon: Über das Zusammenleben um der Allgemeinbildung willen (De congressu eruditionis gratia) übersetzt von Hans Lewy. H. & M. Marcus, Breslau 1938, Seite 36. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloCongrGermanLewy.djvu/036&oldid=- (Version vom 10.12.2016)
  1. Zur allegorischen Deutung der Erzählung von Thamar und Juda (1 Mos. Kap. 38) vgl. Über die Flucht § 149f.
  2. Der Name Juda wird von Philo gewöhnlich als ἐξομολόγησις θεοῦ, ‘Lobpreis Gottes’ (יהודה‎ von הודה‎, wie 1 Mos. 49, 8) gedeutet, vgl. Über die Trunkenheit § 94 Anm. 6. Diese Allegorese hat Philo bereits als feststehend übernommen, da er oben ἐξομολόγησις als Synonym zum Simplex ὁμολόγησις, ‘Vertrag’, ‘Versprechen’ versteht. Vielleicht in Hinblick auf 1  Mos. 49, 8ff. wird Juda, das Haupt des mächtigsten israelitischen Stammes, ein Oberfeldherr genannt.
  3. [In Wendlands und Colsons Ausgabe wird das Zitat: καὶ συνέλαβε unrichtig mit Gen. 38, 18 identifiziert; abgesehen davon, daß der Wortlaut der LXX das Verbum συνέλαβε nicht aufweist, ist auch das Subjekt zu ἐν γαστρὶ ἔλαβεν ἐξ αὐτοῦ nicht zweifelhaft. Philo zitiert hier vielmehr Gen. 16, 4: καὶ συνέλαβεν und setzt also die Erklärung des § 122 begonnenen Verses hier fort; nur in Gen. 16, 4 ist das Subjekt zu συνέλαβεν nicht ausdrücklich angegeben: τὸτίςῥητῶς οὐ μεμήνυται. M. A.]
  4. [Philo weicht dem Wortsinne von συλλαμβάνειν, der in diesem Zusammenhange eindeutig nur das „Empfangen, Schwangerwerden“ sein kann, aus, wie συναρπάζειν zeigt: „durch Liebe gewinnen“. M. A.]
  5. Griechisch τέχνη (vgl. die Definition § 141). Philo spricht hier und im folgenden von den mittleren Wissenschaften (§ 127. 128: μέσαι ἐπιστῆμαι), d. h. den propädeutischen Lehrfächern der allgemeinen Bildung (ἐγκύκλιος παιδεία), die für den Erwerb der Tugend vorbereiten. Vgl. oben § 74ff.