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Philon: Über die Trunkenheit (De ebrietate) übersetzt von Maximilian Adler

ausgießt, macht sie die prachtvolle Schönheit der Seele zu einem stummen[1] Steine. [39] 158 Ist ja auch das Gegenteil der Unwissenheit, das Wissen, gewissermaßen Auge und Ohr der Seele; denn es lenkt den Geist auf das Gesprochene, betrachtet das Seiende und verträgt weder ein Versehen noch ein Überhören,[2] sondern besieht und berücksichtigt alles Hörens- und Sehenswerte, und auch wenn eine Fuß- und Seereise nötig wäre, dringt es bis zu den Grenzen der Erde und des Meeres vor, damit es immer noch mehr sehe oder etwas Neues höre. 159 Denn das Verlangen nach Wissen duldet kein Säumen, es ist der Feind des Schlafes und der Freund des Wachseins. Es weckt daher immer die Denkseele, rüttelt sie auf, schärft sie und zwingt sie überall hinzugehen, indem es sie lüstern macht, etwas zu hören, und indem es ihr einen unaufhörlichen Durst nach Erkenntnis einflößt. 160 Also löst das Wissen Sehen und Hören aus, durch die das richtige Handeln ermöglicht wird; denn wer sieht und hört, erkennt [382 M.] das Nützliche, und indem er es wählt, dessen Gegenteil aber zurückweist,[3] ist ihm Nutzen zuteil geworden. Unwissenheit aber bringt der Seele eine schwerere Verstümmelung bei, als es eine körperliche (Verstümmelung) wäre, indem sie die Ursache aller Vergehen wird, da sie weder etwas voraussieht noch voraushört, um von außen eine Hilfe erlangen zu können. Wegen dieser ihrer starken Vereinsamung unbewacht und unbehütet gelassen, wird sie von den erst besten Menschen und Dingen in gleicher Weise gefährdet. 161 Niemals wollen wir daher soviel Wein zu uns nehmen, daß wir unsere Sinne in Untätigkeit versetzen, niemals uns soweit dem Wissen entfremden, daß wir Unwissenheit, die große und tiefe


  1. Das griechische Wort κωφός, eigentlich abgestumpft, wird in Bezug auf Gehörsempfindungen bald aktivisch gebraucht: stumm, bald passivisch: taub.
  2. Versehen und Überhören halten die Stoiker für Fehler, von welchen der Weise frei ist (StVF II 131, III 548).
  3. In diese platonisierenden Gedanken mischt Philo – vermutlich mit Rücksicht auf die § 165 folgende allegorische Ausdeutung der beiden Töchter Lots – den stoischen Begriff der κατόρθωσις ein, welche unter anderem auch darauf beruht, daß man unter den ἀδιάφορα‚ den ethisch eigentlich belanglosen Dingen, die προηγμένα wählt, weil ihnen doch als naturgemäßen irgendein Wert zukommt, und die ἀποπροηγμένα, ihr Gegenteil, zurückweist.
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Philon: Über die Trunkenheit (De ebrietate) übersetzt von Maximilian Adler. H. & M. Marcus, Breslau 1929, Seite 58. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloEbrGermanAdler.djvu/058&oldid=- (Version vom 21.5.2018)