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Philon: Ueber die Weltschöpfung (De opificio mundi) übersetzt von Joseph Cohn

beilegen würde (1 Mos. 2,19), nicht weil er in Zweifel darüber war – denn nichts ist Gott unbekannt –, sondern weil er wusste, dass er die Denkkraft im Menschen mit selbständiger Bewegung ausgestattet hatte, um nicht selbst Anteil am Bösen zu haben[1]. Er prüfte ihn, wie ein Lehrer den Schüler, indem er die in der Seele ruhende Fähigkeit erweckte und sie zu einem der ihr obliegenden Geschäfte berief, damit er aus eigener Kraft die Namen gebe, nicht ungehörige und unpassende, sondern solche, die die Eigenschaften der Dinge sehr gut zum Ausdruck bringen. 150 Denn da die Denkkraft in der Seele noch ungetrübt war und noch keine Schwäche oder Krankheit oder Leidenschaft eingedrungen war, so nahm er die Vorstellungen von den Körpern und Gegenständen in voller Reinheit in sich auf und gab ihnen die zutreffenden Namen, da er gut erriet, was sie bezeichneten, so dass an ihrer Benennung zugleich auch ihr Wesen erkannt werden konnte. So war er in allem Schönen ausgezeichnet und gelangte bis hart an das Endziel menschlicher Glückseligkeit.

[53.] 151 Da aber nichts in der Schöpfung beständig ist, alles Sterbliche vielmehr Wandlungen und Veränderungen erfahren muss, so musste auch der erste Mensch die Folgen einer schlechten Tat verspüren. Die Veranlassung zum sündhaften Leben gab ihm das Weib. Solange er nämlich für sich allein war, glich er in seinem Alleinsein der Welt und Gott und prägte in seiner Seele die Wesenscharaktere beider aus, nicht alle, aber soviel davon ein sterbliches Wesen in sich aufzunehmen vermag. Als aber auch das Weib gebildet war, sah er ein ihm gleiches Gesicht und eine verwandte Gestalt; er freute sich des Anblicks, trat an sie heran und begrüsste sie. 152 Da sie aber kein Lebewesen wahrnahm, das ihr ähnlicher war als er, freute sie sich ebenfalls und erwiderte züchtig seinen Gruss. Nun trat die Liebe hinzu, die sie wie zwei getrennte Hälften eines Wesens vereinigte und

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Philon: Ueber die Weltschöpfung (De opificio mundi) übersetzt von Joseph Cohn. H. & M. Marcus, Breslau 1909, Seite 81. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloOpifGermanCohn.djvu/59&oldid=- (Version vom 9.9.2019)
  1. d. h. dem Menschen ist selbständiges Denken (und Willensfreiheit) verliehen, damit die Fehler, die er begeht, nicht auf Gott zurückgeführt werden können (s. ob. § 75 Anm.).