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Philon: Ueber die Weltschöpfung (De opificio mundi) übersetzt von Joseph Cohn

sich hinneigen und Gottesfurcht und Frömmigkeit, durch die das unsterbliche Leben gewonnen wird, geringschätzen sah, verwarf er sie mit Recht, jagte sie aus dem Garten hinaus und liess ihr, da sie schwere, ja unheilbare Sünden begangen hatte, keine Hoffnung auf Wiederkehr, denn ungemein tadelnswert war die Ursache der Verführung, die wir nicht verschweigen dürfen. 156 Es heisst nämlich, das giftige erdgeborene Kriechtier (die Schlange) habe früher menschliche Laute hervorgebracht und habe sich einmal der Frau des ersten Menschen genähert und sie wegen ihrer Unschlüssigkeit und zu grossen Aengstlichkeit getadelt, dass sie zaudere und Bedenken trage sich eine Frucht zu pflücken, die sehr schön zum Anschauen, sehr angenehm zum Essen und ausserdem sehr nützlich sei, da sie dadurch Gutes und Böses würde erkennen können (1 Mos. 3,5.6). Da habe sie ohne Ueberlegung infolge ihres schwachen und unbeständigen [38 M.] Sinnes eingewilligt, habe von der Frucht gegessen und auch ihrem Manne davon gegeben; das stürzte beide urplötzlich aus der Unschuld und Einfalt ihres Herzens in Sünde. Der Allvater sei hierüber sehr erzürnt gewesen und habe die gebührenden Strafen über sie verhängt; denn ihre Handlungsweise verdiente seinen Zorn, da sie an dem Baume des unsterblichen Lebens, der Vollendung der Tugend, durch die sie ein langes und glückliches Leben gewinnen konnten, vorübergegangen waren und sich das flüchtige und sterbliche Leben, das eigentlich nicht ein „Leben“, sondern nur eine „Zeit“ ist voll von Missgeschick, erwählt hatten.

[56.] 157 Es sind das aber nicht etwa mythische Gebilde, an denen das Dichter- und Sophistenvolk Gefallen findet, sondern typische Beispiele, die zu allegorischer Deutung nach ihrem verborgenen Sinn auffordern. Wenn man demnach einer natürlichen Vermutung folgen will, wird man sagen, dass die erwähnte Schlange ein Sinnbild der Wollust ist, weil sie erstens ein Tier ohne Füsse ist und vornüber gebeugt auf dem Bauche kriecht; zweitens weil sie Erdschollen als Nahrung zu sich nimmt; drittens weil sie das Gift in den Zähnen herumträgt, mit dem sie die von ihr Gebissenen tötet. 158 Auch dem Lüstling fehlt nichts von alledem;

Empfohlene Zitierweise:
Philon: Ueber die Weltschöpfung (De opificio mundi) übersetzt von Joseph Cohn. H. & M. Marcus, Breslau 1909, Seite 83. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloOpifGermanCohn.djvu/61&oldid=- (Version vom 9.9.2019)