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Philon: Ueber die Cherubim (De Cherubim) übersetzt von Leopold Cohn

wir leben, werden wir mehr (von der Seele) beherrscht, als [p. 160 M.] dass wir herrschen, und werden mehr von ihr erkannt, als dass wir sie erkennen, denn sie kennt uns, ohne von uns erkannt zu werden, und erteilt uns Befehle, denen wir gehorchen müssen wie Sklaven ihrer Herrin. Und wenn sie uns verlassen, und zum Herrscher (der Welt) zurückkehren will, wird sie sich entfernen und unser Haus ohne Leben zurücklassen, und wenn wir sie zu bleiben zwingen wollen, wird sie sich auflösen; denn aus feinen Teilchen zusammengesetzt ist die Seele[1], sodass sie dem Körper keine Handhabe bietet (sie festzuhalten). 116 (33.) Ist der Verstand etwa mein eigener Besitz?[2] der Falsches zu vermuten pflegt, der irre geht, der dünkelhaft ist, der verkehrt denkt, der töricht handelt, der unvernünftig befunden wird, in der Verzückung, bei einer Verstimmung, im hohen Alter? Ist die Sprache mein Besitz? oder die Stimmwerkzeuge? Lähmt nicht ein kleiner Krankheitsfall die Zunge, verschliesst er nicht selbst den Redegewandten den Mund? Lässt nicht die Erwartung eines Unglücks plötzlich Tausende verstummen? 117 Aber auch als Herr der Sinnlichkeit kann ich nicht gelten, sondern eher wohl als ihr Knecht, der ihr folgt, wohin immer sie ihn führt, zu den Farben, zu den Formen, zu den Gerüchen, zu den Nahrungssäften und zu den andern körperlichen Dingen. Durch alles dies ist, glaube ich, klar geworden, dass wir von fremden Besitztümern Gebrauch machen und weder Ruhm noch Reichtum noch Ehren noch Aemter oder was sonst mit Körper oder Seele zusammenhängt als unser Eigentum besitzen, ja nicht einmal das Leben selbst. 118 Wenn wir also erkannt haben, dass wir (alle diese Dinge) nur als Lehen haben, werden wir ihnen als Besitz Gottes unsere Sorge angedeihen lassen, weil wir wissen, dass dem Herrn das Recht zusteht,


  1. Nach stoischer Lehre ist die Seele πνεῦμα ἔνθερμον (Diog. La. VII 157), aus dem reinen Lufthauch (πνεῦμα) und Feuer (πῦρ), also aus sehr feinen Stoffen zusammengesetzt; daher kann sie sich leicht in die höheren Regionen aufschwingen: Sext. Empir. adv. math. IX 71 ...λεπτομερεῖς γὰρ οὖσαι (αἱ ψυχαὶ) καὶ οὐχ ἧττον πυρώδεις ἢ πνευματώδεις εἰς τοὺς ἄνω μᾶλλον τόπους κουφοφοροῦσιν.
  2. Statt ἐνδιαίτημα ist wohl ἴδιον κτῆμα zu lesen.
Empfohlene Zitierweise:
: Ueber die Cherubim (De Cherubim) übersetzt von Leopold Cohn. Breslau: H. & M. Marcus, 1919, Seite 201. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhilonCherGermanCohn.djvu/035&oldid=- (Version vom 3.12.2016)