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Philon: Ueber die Tugenden (De virtutibus) übersetzt von Leopold Cohn

Gemeinsinns gegen Menschen walten lassen, er will sie in verschwenderischer Weise noch weiter erstrecken und dehnt sie auch auf die vernunftlosen Lebewesen und auf die verschiedenen Arten edler Bäume aus. Was er nun über alles und jedes im Gesetz angeordnet hat, müssen wir im einzelnen anführen und wollen mit den Menschen beginnen.

82 (6.) Er verbietet Geld auf Zins zu leihen dem Bruder (2 Mos. 22,24. 3 Mos. 25,36.37. 5 Mos. 23,20)[1]. Unter „Bruder“ versteht er hier nicht bloss den von denselben Eltern Entsprossenen, sondern jeden Mitbürger und Stammesgenossen; denn er hält es nicht für recht, Zinsen von Geldern zu fordern wie Junge vom Zuchtvieh. 83 Und er ermahnt sie, nicht aus diesem Grunde Ausflüchte zu machen und widerwillig Darlehen zu geben, sondern mit offenen Händen und offenen Herzen den Bedürftigen am liebsten Geschenke anzubieten; denn sie sollten bedenken, dass auch die freiwillige Gabe gewissermassen ein Darlehen [389.M.] ist, das unter besseren Verhältnissen ohne Zwang aus freien Stücken vom Empfänger zurückerstattet werden wird; wenn sie aber nicht schenken wollen, so sollen sie wenigstens bereitwilligst und gern leihen und nichts ausser dem Kapital zurücknehmen. 84 Denn so würden einerseits die Armen nicht ärmer werden dadurch, dass sie gezwungen sind mehr abzuzahlen als sie empfangen haben, andrerseits die Geldleiher nicht geschädigt werden, wenn sie nur das zurückerhalten, was sie hingegeben haben. Ist es doch nicht nur das; denn mit dem Kapital gewinnen sie statt der Zinsen, die sie nicht nehmen wollten, die schönsten und kostbarsten Besitztümer, die es bei Menschen gibt: Milde, Gemeinsinn, Güte, Grossherzigkeit, guten Namen, guten Ruf. 85 Welcher Besitz lässt sich damit vergleichen? Ganz arm erscheint selbst der Grosskönig, wenn man seinen Besitz mit einer Tugend vergleicht; denn sein lebloser Reichtum ist in Schatzhäusern und Erdwinkeln vergraben, die Schätze der Tugend dagegen ruhen in dem führenden Teil der Seele; Anteil haben an ihnen auch der Himmel, der reinste Bestandteil der Welt, und Gott, der Schöpfer aller Dinge. Die reiche Armut der


  1. Dieses Gesetz hat Philo auch Ueber die Einzelgesetze II § 74 ff. besprochen.
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Philon: Ueber die Tugenden (De virtutibus) übersetzt von Leopold Cohn. Breslau: H. & M. Marcus, 1910, Seite 339. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhilonVirtGermanCohn.djvu/027&oldid=- (Version vom 31.10.2017)