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Philon: Ueber die Tugenden (De virtutibus) übersetzt von Leopold Cohn

ungezügelten freien Lauf, sondern hemmte ihre Heftigkeit dreissig Tage lang. Zweitens stellt er die Liebe auf die Probe, ob sie bloss in heftigem und unbeständigem Verlangen und ganz und gar in Leidenschaft bestehe, oder ob auch ein reinerer Gedanke daran teilhabe, ob vernünftige Ueberlegung damit verbunden sei. Vernünftige Ueberlegung nämlich wird die Begierde zügeln und nicht zulassen, dass sie eine gewalttätige Handlung begeht, sondern bewirken, dass sie die monatliche Frist abwartet. 114 Drittens hat er Erbarmen mit der Kriegsgefangenen, wenn sie noch Jungfrau ist, weil nicht die Eltern sie verloben und ihr den ersehnten Ehebund verschaffen, wenn sie aber Witwe ist, weil sie, des ersten Gatten beraubt, nun einen andern bekommen soll, und zwar einen, der als Herr sie bedroht, wenn er sie auch tatsächlich zur ebenbürtigen Gattin macht; denn der Untergebene fürchtet immer die Macht des Herrschenden, auch wenn er milde Gesinnung zeigt. 115 Wenn aber einer seine Begierde befriedigt hat und der Kriegsgefangenen überdrüssig geworden ist und keinen Umgang mehr mit ihr pflegen will, so bestraft ihn zwar das Gesetz nicht, es weist ihn aber zurecht und belehrt ihn, seinen Charakter zu bessern: es befiehlt ihm nämlich, sie weder zu verkaufen noch fernerhin als Sklavin zu behalten[1], sondern ihr die Freiheit zu schenken und sie frei aus dem Hause ziehen zu lassen (5 Mos. 21,14), damit sie nicht, wenn eine andere Frau einziehe und dann, wie gewöhnlich, Zank entstehe, aus Eifersucht unerträgliche Qualen erdulde, wenn der Herr durch neue Liebesbande gefesselt sich um die alten nicht mehr kümmere.

116 (15.) Noch manche andere Verordnungen, die auf freundliches Verhalten hinzielen, bietet er aufmerksamen Ohren. So befiehlt er, wenn die Esel von Feinden unter dem Druck der Lasten, die sie zu tragen haben, erliegen und niedersinken, nicht vorüberzugehen, sondern ihnen die Last zu erleichtern


  1. So deutet Philo den Ausdruck οὐκ ἀθετήσεις αὐτήν (5 Mos. 21,14), womit die Septuaginta {{לא תתעםר בה‎ übersetzt. Dieselbe Auslegung findet sich bei den Rabbinen (vgl. Sifre z. d. St.) und bei Josephus (Altert. IV § 259 μηκέτ᾽ ἐξουσίαν ἐχέτω καταδουλοῦν αὐτήν).
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Philon: Ueber die Tugenden (De virtutibus) übersetzt von Leopold Cohn. Breslau: H. & M. Marcus, 1910, Seite 347. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhilonVirtGermanCohn.djvu/035&oldid=- (Version vom 31.10.2017)