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Philon: Ueber die Tugenden (De virtutibus) übersetzt von Leopold Cohn

der als eigenstem Besitz der Weise streben wird; Ohnmacht [p. 404 M.] und Schwäche dagegen passen nicht zum Charakter eines Weisen. 168 Ausserdem gibt er die der vernünftigen Natur (des Menschen) völlig angemessene Lehre, Gott soviel wie möglich nachzuahmen und nichts ausser acht zu lassen, um diese Aehnlichkeit zu erreichen, soweit sie erreichbar ist. (24.) Er meint also: da dir Kraft verliehen ist von dem Allmächtigen, so lass andere daran teilnehmen und handle an ihnen so, wie an dir gehandelt ist; du wirst Gott nachahmen, wenn du ähnliche Wohltaten erweisest. 169 Denn zum Nutzen der Gesamtheit sind die Gnaden des obersten Herrschers bestimmt, die er einzelnen gewährt, nicht damit diese sie empfangen und dann versteckt halten oder zum Schaden für andere missbrauchen, sondern damit sie sie als Gemeingut hinaustragen und wie bei einer allgemeinen Speisung möglichst alle zu ihrem Gebrauch und Genuss einladen. 170 Wir sagen also dem Reichen, dem Angesehenen, dem Kräftigen, dem Kenntnisreichen, er solle reich, angesehen, kräftig, kenntnisreich und überhaupt gut machen die in seine Nähe Kommenden und solle nicht Neid und Missgunst über die Tugend stellen und nicht denen in den Weg treten, die sich ihr Glück zu schaffen imstande sind. 171 Die in ihrem aufs höchste gesteigerten Uebermut Aufgeblasenen aber lässt das Gesetz wie Menschen, die für immer unheilbar sind, mit Recht nicht vor ein menschliches Gericht bringen, sondern übergibt sie dem göttlichen Richterstuhl. Es heisst nämlich: „wer aus Uebermut etwas zu tun unternimmt, der erzürnt Gott“ (4 Mos. 15,30)[1]. 172 Warum? erstens weil der Uebermut ein Laster der Seele ist, die Seele aber nur für Gott sichtbar ist; und wenn ein Blinder strafen wollte, würde er getadelt werden, da er (mit Recht) der Unkenntnis geziehen werden kann, der Sehende dagegen ist zu preisen, da er in voller Kenntnis (des Sachverhalts) handelt. Zweitens weil jeder


  1. Die Bibelstelle lautet wörtlich: „die Seele, die solches tut mit erhobener Hand (d. h. vorsätzlich sündigt), … lästert Gott“. Die Septuaginta übersetzt ביד רמה‎ durch ἐν χειρὶ ὑπερηφανίας, wofür Philo μεθ᾽ ὑπερηφανίας (mit Uebermut) sagt, und מגדף‎ durch παροξύνει (reizt, erzürnt). Philo bezieht auf Grund dieser Uebersetzung die Worte allgemein auf übermütiges Handeln (ebenso Ueber die Einzelgesetze I § 265).
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Philon: Ueber die Tugenden (De virtutibus) übersetzt von Leopold Cohn. Breslau: H. & M. Marcus, 1910, Seite 362. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhilonVirtGermanCohn.djvu/050&oldid=- (Version vom 1.8.2018)