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Seite:Philosophie der symbolischen Formen erster Teil.djvu/101

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hier soll eine Grammatik geschaffen werden, die, ohne Rücksicht auf die verschiedenen Idiome der besonderen Sprachen, nur die universellen, für alle Sprachen identischen Prinzipien ins Auge faßt. Eine allgemeine Logik und eine allgemeine Psychologie sollen der Gliederung des Sprachstoffs als Grundlage dienen und diese Gliederung als notwendig erscheinen lassen. Wie z. B. die Vermögen der Seele eine ursprüngliche Zweiteilung aufweisen – wie dem Vorstellungsvermögen das Begehrungsvermögen gegenübersteht, so muß auch jeder sprachlich geformte Satz entweder Aussagesatz oder Willensäußerung (a sentence of assertion or a sentence of volition) sein – und allgemein ergibt sich auf dieser Grundlage, daß die Frage, warum die Sprache gerade diese und keine anderen Redeteile, in dieser und keiner anderen Gestalt und Zahl in sich schließt, sich eindeutig und prinzipiell beantworten lassen müsse. Merkwürdig und interessant ist insbesondere Harris’ Versuch, aus einer logischen und psychologischen Analyse der Zeitvorstellung ein allgemeines Schema für eine Darstellung der Tempusbildung des Verbums zu gewinnen[1]. Aber je weiter er fortschreitet, um so deutlicher wird es, daß die Psychologie, auf die er sich für die Betrachtung und Klassifikation der Sprachformen stützt, eine reine „Strukturpsychologie“ ist, die der Elementenpsychologie des Sensualismus aufs schärfste entgegengesetzt ist. In seiner Verteidigung der „allgemeinen Ideen“ gegen ihre empiristischen Kritiker knüpft Harris unmittelbar an die Schule von Cambridge an[2]. „Was mich betrifft – so bemerkt er – so ist es mir immer, wenn ich die Einzelheiten über Sensation und Reflexion lese und wenn man mich im ganzen über den Vorgang der Entstehung meiner Ideen belehrt, als wenn ich die menschliche Seele gleich einem Schmelztiegel betrachten sollte, in dem durch eine Art logischer Chemie Wahrheiten hervorgebracht werden – Wahrheiten, die also ebenso wie irgend eine Pille oder ein Elixier, als unsere eigenen Geschöpfe angesehen werden[3].“ Dieser Anschauung der Erzeugung der „Form“ aus der „Materie“ stellt er seine eigene gegenüber, die, gestützt auf Platon und Aristoteles, den durchgängigen Primat der Form vertritt. Allen sinnlichen Formen müssen reine intelligible Formen zugrunde liegen, die „früher“ als die sinnlichen sind[4]. Und in diesem Zusammenhang greift Harris, der als Neffe Shaftesburys seinem Gedankenkreis


  1. [1] Harris, Hermes 3d edition, London, 1771, B. I, chap. 6. (S. 97 ff.); zum Früheren s. bes. B. I, Ch. 2, S. 17 ff.; Ch. 3, S. 24 ff.
  2. [2] A. a. O. B. III, ch. 4, S. 350 ff. – zu vergleichen mit Cudworth, The true Intellectual System of the Universe, London 1678, B. I., ch. 4.
  3. [3] A. a. O. B. III, ch. 5, S. 404 f.
  4. [4] ibid. B. III, ch. 4, S. 380 ff.
Empfohlene Zitierweise:
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 85. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/101&oldid=- (Version vom 12.9.2022)