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Richtung des Denkens hatte Steinthal in seiner „Einleitung in die Psychologie und Sprachwissenschaft“ (1871) den Herbartschen Begriff der Apperzeption als das Fundament der Sprachbetrachtung zu erweisen gesucht. Im bewußten und scharfen Gegensatz zu den Grundlagen der Steinthalschen und Wundtschen Sprachansicht kehrt sodann Marty (1908) zu dem Gedanken einer „allgemeinen Grammatik und Sprachphilosophie“ zurück, die er als den Entwurf einer „deskriptiven Bedeutungslehre“ versteht. Aber auch hier wird der Aufbau dieser Bedeutungslehre mit rein psychologischen Mitteln zu vollziehen gesucht; ja die Aufgabe der Sprachphilosophie wird ausdrücklich derart abgegrenzt, daß zu ihr alle auf das Allgemeine und Gesetzmäßige an den sprachlichen Erscheinungen gerichteten Probleme gehören sollen, sofern sie „entweder psychologischer Natur sind oder wenigstens nicht ohne eine vornehmliche Hilfe der Psychologie gelöst werden können“. So schien auf diesem Gebiete – trotz des Widerspruchs, dem diese Anschauung in den Kreisen der Sprachforschung selbst, vor allem bei Karl Vossler, begegnete – der Psychologismus und Positivismus nicht nur als methodisches Ideal festgestellt, sondern fast zu einem allgemeinen Dogma erhoben zu sein. Der philosophische Idealismus freilich hat nicht aufgehört, dieses Dogma zu bekämpfen, aber auch er hat der Sprache die autonome Stellung, die sie bei Wilh. von Humboldt besaß, nicht wiedererobert. Denn statt sie als eine selbständige, auf einem eigentümlichen Gesetz beruhende geistige „Form“ zu verstehen, hat er versucht, sie auf die allgemeine ästhetische Ausdrucksfunktion zurückzuführen. In diesem Sinne hat Benedetto Croce das Problem des sprachlichen Ausdrucks dem Problem des ästhetischen Ausdrucks ein- und untergeordnet, wie auch Hermann Cohens System der Philosophie die Logik, die Ethik und Ästhetik und zuletzt die Religionsphilosophie als selbständige Glieder behandelt hat, auf die Grundfragen der Sprache aber nur gelegentlich und im Zusammenhang mit den Grundfragen der Ästhetik eingeht.

Aus dieser Sachlage ergibt sich, daß die vorliegende Darstellung sich in philosophischer Hinsicht nicht innerhalb eines fest abgesteckten Gedankenkreises bewegen konnte, sondern daß sie überall versuchen mußte, sich ihren methodischen Weg selbst zu bahnen. Um so reicher waren dagegen die Hilfsquellen, die sich ihr für die Durchführung ihres Themas aus der Entwicklung ergaben, die die Sprachwissenschaft seit der Zeit Wilhelm von Humboldts genommen hat. Wenn der Gedanke einer wahrhaft universellen Sprachbetrachtung bei Humboldt noch als ein Postulat der idealistischen Philosophie erscheinen kann, so scheint dieses Postulat

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Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite VII. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/11&oldid=- (Version vom 4.8.2020)