„Vorstellungen“ und deren Benennung sich vollzieht. Der Naturgegebenheit der Perzeptionen steht nicht mehr ein künstliches System von Zeichen gegenüber, sondern die Perzeption schließt selbst, kraft ihrer geistigen Eigenart, schon ein eigentümliches Formmoment in sich, das, vollständig entwickelt, in der Form des Wortes und der Sprache sich darstellt. Daher ist die Sprache – wenngleich Herder fortfährt, von ihrer „Erfindung“ zu sprechen – für ihn niemals ein bloß Gemachtes, sondern ein von innen her und notwendig Gewordenes. Sie ist ein Faktor im synthetischen Aufbau des Bewußtseins selbst, kraft dessen sich die Welt der sinnlichen Empfindungen erst zu einer Welt der Anschauung gestaltet: sie ist somit keine Sache, die hervorgebracht wird, sondern eine Art und eine Bestimmtheit des geistigen Zeugens und Bildens.
Der allgemeine Formbegriff, unter den die Sprache gefaßt wird, hat damit eine entscheidende Wandlung erfahren. Herders Preisschrift bezeichnet scharf und genau die Grenze, an der der ältere rationalistische Begriff der „Reflexionsform“, der die Philosophie der Aufklärung beherrscht, in den romantischen Begriff der „organischen Form“ übergeht. Durch Friedrich Schlegels Schrift „über die Sprache und Weisheit der Inder“ wird dieser neue Begriff zum erstenmal in voller Bestimmtheit in die Sprachbetrachtung eingeführt. Man wird indes den tieferen Motiven dieser Auffassung nicht gerecht, wenn man in der Bezeichnung der Sprache als Organismus nur ein Bild, nur eine poetische Metapher sieht. So abgeblaßt und vag uns diese Bezeichnung heute erscheinen mag: so inhaltsvoll und konkret drückte sich in ihr für Friedrich Schlegel und seine Epoche die neue Stellung aus, die jetzt der Sprache im Ganzen des geistigen Seins zugewiesen wurde. Denn der Begriff des Organismus, wie ihn die Romantik nimmt, dient nicht der Bezeichnung eines einzelnen Faktums der Natur, eines besonderen und abgegrenzten Gebiets gegenständlicher Phänomene, mit denen die sprachlichen Phänomene freilich immer nur sehr mittelbar und ungenau verglichen werden könnten. Nicht als Ausdruck für eine besondere Klasse von Erscheinungen, sondern als Ausdruck eines allgemeinen spekulativen Prinzips wird hier dieser Begriff genommen – eines Prinzips, das geradezu das letzte Ziel und den systematischen Einheitspunkt der romantischen Spekulation bezeichnet. Das Problem des Organismus bildete die geistige Mitte, auf die sich die Romantik von den verschiedensten Problemgebieten her immer wieder hingewiesen und zurückgeführt sah. Goethes Metamorphosenlehre, Kants kritische Philosophie und Schellings erste Entwürfe der Naturphilosophie und des „Systems des transzendentalen Idealismus“
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 96. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/112&oldid=- (Version vom 27.9.2022)