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nur ein kleiner Teil der Masse des Denkbaren erschöpfen, lassen sich nur solche Begriffe bezeichnen, die durch rein rationale Konstruktion gebildet werden können. Wo aber der Stoff innerer Wahrnehmung und Empfindung zu Begriffen gestempelt werden soll, da kommt es auf das individuelle Vorstellungsvermögen des Menschen an, das von seiner Sprache unzertrennlich ist. „Das Wort, welches den Begriff erst zu einem Individuum der Gedankenwelt macht, fügt zu ihm bedeutend von dem Seinigen hinzu, und indem die Idee durch dasselbe Bestimmtheit empfängt, wird sie zugleich in gewissen Schranken gefangen gehalten … Durch die gegenseitige Abhängigkeit des Gedankens und des Wortes voneinander leuchtet es klar ein, daß die Sprachen nicht eigentlich Mittel sind, die schon erkannte Wahrheit darzustellen, sondern weit mehr, die vorher unerkannte zu entdecken. Ihre Verschiedenheit ist nicht eine von Schällen und Zeichen, sondern eine Verschiedenheit der Weltansichten selbst.“ Hierin ist der Grund und der letzte Zweck aller Sprachuntersuchung für Humboldt enthalten. Geschichtlich prägt sich darin ein merkwürdiger Prozeß aus, der von neuem lehrt, wie die eigentlich fruchtbaren philosophischen Grundgedanken auch über die unmittelbare Fassung hinaus, die sie durch ihre ersten Urheber erhalten, sich fortdauernd wirksam erweisen. Denn hier ist Humboldt, durch Kants und Herders Vermittlung, von Leibniz’ eng-logischer Ansicht der Sprache zu der tieferen und umfassenderen, universell-idealistischen Auffassung zurückgedrungen, die in den allgemeinen Prinzipien der Leibniz’schen Lehre gegründet ist. Wie für Leibniz das Universum nur in der Spiegelung durch die Monaden gegeben ist, wie jede derselben die Gesamtheit der Phänomene unter einem individuellen „Gesichtspunkt“ darstellt – und wie doch andererseits eben die Gesamtheit dieser perspektivischen Ansichten und die Harmonie unter ihnen dasjenige ausmacht, was wir die Objektivität der Erscheinungen, die Wirklichkeit der phänomenalen Welt nennen: – so wird hier auch jede einzelne Sprache zu einer solchen individuellen Weltansicht, und erst die Totalität dieser Weltansichten macht den für uns erreichbaren Begriff der Objektivität aus. So begreift es sich, daß die Sprache, indem sie dem Erkennbaren als subjektiv entgegensteht, auf der anderen Seite dem Menschen, als empirisch-psychologischen Subjekt, als objektiv gegenübertritt. Denn jede ist ein Anklang der allgemeinen Natur des Menschen: „die Subjektivität der ganzen Menschheit wird aber wieder in sich zu etwas Objektivem[1]“.


  1. [1] Über das vergleichende Sprachstudium, W. IV, 21 ff.; vgl. bes. Grundzüge des allgemeinen Sprachtypus, W. V, 386 ff. und die Einleit. zum Kawiwerk W. VII, 1, S. 59 ff.
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Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 102. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/118&oldid=- (Version vom 2.10.2022)