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„Sprachvergleichenden Untersuchungen“ selbst, diesem Versuch einer dialektischen Klassifikation der Versuch einer naturwissenschaftlichen Klassifikation unmittelbar zur Seite. Der systematische Teil der Sprachforschung – so wird ausdrücklich betont – hat eine unverkennbare Ähnlichkeit mit den Naturwissenschaften. Der ganze Habitus einer Sprachenfamilie läßt sich unter gewisse Gesichtspunkte bringen, wie der einer Pflanzen- oder Tierfamilie. „Wie in der Botanik gewisse Merkmale – Keimblätter, Beschaffenheit der Blüte – vor andern sich als Einteilungsgrund tauglich erweisen, eben weil diese Merkmale gewöhnlich mit anderen coincidieren, so scheinen in der Einteilung der Sprachen innerhalb eines Sprachstammes, wie z. B. des Semitischen, Indogermanischen, die Lautgesetze diese Rolle zu übernehmen.“ Aber auch hier schlägt freilich die Betrachtung zunächst nicht diesen empirischen Weg, sondern eine rein spekulative Richtung ein. Die monosyllabischen Sprachen gleichen, da sie keinerlei Gliederung des Wortes kennen, dem einfachen Krystall, der im Gegensatze zu den gegliederten höheren Organismen als strenge Einheit erscheint; den agglutinierenden Sprachen, die die Gliederung in Teile erreicht, diese Teile aber noch nicht zu einem wahrhaften Ganzen verschmolzen haben, entspricht im organischen Reich die Pflanze, während die flektierenden Sprachen, bei denen das Wort die Einheit in der Mannigfaltigkeit der Glieder ist, dem animalischen Organismus entsprechen[1]. Und hier handelt es sich für Schleicher nicht um eine bloße Analogie, sondern um eine höchst bedeutsame objektive Bestimmung, die, wie sie aus dem Wesen der Sprache selbst quillt, so auch über die Methodik der Sprachwissenschaft entscheidet. Sind die Sprachen Naturwesen, so müssen auch die Gesetze, nach denen sie sich entwickeln, nicht geschichtliche, sondern naturwissenschaftliche Gesetze sein. In der Tat fallen der geschichtliche und der sprachbildende Prozeß sowohl inhaltlich als zeitlich völlig auseinander. Geschichte und Sprachbildung sind nicht neben einander hergehende, sondern sich ablösende Fähigkeiten des menschlichen Geistes. Denn die Geschichte ist das Werk des selbstbewußten Willens, die Sprache das Werk einer bewußtlosen Notwendigkeit. Wenn in jener sich die Freiheit darstellt, die sich eigentliche Wirklichkeit gibt, so gehört diese der unfreien, natürlichen Seite des Menschen an. „Allerdings zeigt auch die Sprache ein Werden, das im weiteren Sinne des Wortes Geschichte genannt werden mag: ein sukzessives Hervortreten der Momente, aber dieses Werden ist so wenig ein charakteristisches Merkmal


  1. [1] S. bes. Sprachvergleichende Untersuchungen I (Bonn 1848), S. 7 ff.; II (Bonn 1850), S. 5 ff.
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Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 109. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/125&oldid=- (Version vom 2.10.2022)