Wie hierdurch das positivistische Schema der Betrachtung nicht nur allmählich gelockert, sondern schließlich völlig gesprengt wird: das tritt besonders deutlich in den Schriften Karl Vosslers zu Tage. Vossler knüpft in seinen beiden Schriften „Positivismus und Idealismus in der Sprachwissenschaft“ (1904) und „Sprache als Schöpfung und Entwicklung“ (1905) an Hegel an; aber nicht minder deutlich als dieser Zusammenhang ist die Linie, die ihn mit Wilh. v. Humboldt verbindet. Humboldts Gedanke, daß die Sprache niemals als bloßes Werk (Ergon), sondern als Tätigkeit (Energeia) zu begreifen ist, daß alles, was an ihr „Tatsache“ ist, erst völlig verständlich wird, wenn man es bis zu den geistigen „Tathandlungen“ zurückverfolgt, aus denen es entspringt, erfährt hier unter veränderten geschichtlichen Bedingungen seine Erneuerung. Schon bei Humboldt soll durch dieses Prinzip nicht sowohl der psychologische „Ursprung“ der Sprache, als vielmehr ihre bleibende, durch alle Phasen ihres geistigen Aufbaus hindurchwirkende Form bezeichnet werden. Dieser Aufbau gleicht nicht der bloßen Entfaltung eines gegebenen natürlichen Keimes, sondern er trägt den durchgängigen Charakter geistiger Spontaneität, die sich auf jeder neuen Stufe in neuer Weise äußert. In gleichem Sinne wird auch von Vossler dem an sich vieldeutigen Begriff der „Entwicklung“ der Sprache der Begriff der Sprache als Schöpfung gegenüber- und entgegengestellt. Was sich an ihr, als gegebene Gesetzlichkeit eines bestimmten Zustandes, in der Form von Regeln festhalten läßt, ist ein bloßes Petrefakt; aber hinter diesem bloß Gewordenen stehen nun erst die eigentlichen konstitutiven Akte des Werdens, die ständig sich erneuernden geistigen Zeugungsakte. Und in ihnen, auf denen das Ganze der Sprache wesentlich beruht, soll nun auch die wahrhafte Erklärung des Einzelnen der Spracherscheinungen gefunden werden. Die positivistische Richtung der Betrachtung, die von den Elementen zum Ganzen, von den Lauten zu den Worten und Sätzen und von hier zu dem eigentümlichen „Sinn“ der Sprache fortzuschreiten sucht, verkehrt sich daher jetzt in ihr Gegenteil. Vom Primat des „Sinnes“ und von der Allgemeinheit der Sinnfügung aus gilt es, die Einzelphänomene der Sprachentwicklung und der Sprachgeschichte zu begreifen. Der Geist, der in der menschlichen Rede lebt, konstituiert den Satz, das Satzglied, das Wort und den Laut. Wird mit diesem „idealistischen Kausalitätsprinzip“ voller Ernst gemacht, so müssen sämtliche Erscheinungen, die von den unteren Disziplinen, wie Lautlehre, Flexionslehre, Wortbildung und Syntax, beschrieben werden, ihre letzte und wahrhafte Erklärung in der obersten Disziplin, d. h. in der Stilistik finden. Aus dem „Stil“, der im Aufbau jeder Sprache waltet,
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 119. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/135&oldid=- (Version vom 2.10.2022)