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Noch deutlicher und ausgeprägter zeigt sich diese „analogische“ Entsprechung zwischen Laut und Bedeutung in der Funktion gewisser weitverbreiteter und typischer Grundmittel der Sprachbildung, wie z. B. in dem Gebrauch, der von dem lautlichen Mittel der Reduplikation für die Wort- und Formenbildung, sowie für die Syntax, gemacht wird. Die Reduplikation scheint auf den ersten Blick noch ganz durch das Prinzip der Nachahmung beherrscht zu werden: die Verdoppelung des Lautes oder der Silbe scheint lediglich dazu bestimmt, gewisse objektive Beschaffenheiten an dem bezeichneten Ding oder Vorgang in möglichster Treue wiederzugeben. Die Wiederholung des Lautes schmiegt sich derjenigen, die im sinnlichen Dasein oder Eindruck gegeben ist, unmittelbar an. Wo ein Ding sich mehrfach in gleichartiger Beschaffenheit den Sinnen darbietet, wo ein zeitlicher Vorgang sich in einer Folge gleichartiger oder ähnlicher Phasen vollzieht, da hat die Lautwiederholung ihre eigentliche Stelle. Aber auf dieser ganz elementaren Grundlage baut sich nun ein System von erstaunlicher Mannigfaltigkeit und von den feinsten Bedeutungsschattierungen auf. Der sinnliche Eindruck der „Mehrheit schlechthin“ zerlegt sich zunächst begrifflich in den Ausdruck der „kollektiven“ und der „distributiven“ Mehrheit. Gewisse Sprachen, denen die Pluralbezeichnung in unserem Sinne fehlt, haben statt ihrer die Idee der distributiven Mehrheit zur höchsten Schärfe und Bestimmtheit entwickelt, indem sie aufs sorgfältigste unterscheiden, ob ein bestimmter Akt sich als ein unteilbares Ganze darstellt oder ob er in mehrere getrennte Einzelhandlungen zerfällt. Gilt das letztere, sind also an dem Akt gleichzeitig verschiedene Subjekte beteiligt, oder wird er von demselben Subjekt in verschiedenen zeitlichen Ansätzen, in einzelnen „Stadien“ ausgeführt, so tritt als Ausdruck dieser distributiven Sonderung die Lautverdoppelung ein. Gatschet hat in seiner Darstellung der Klamath-Sprache gezeigt, wie diese Grundunterscheidung hier geradezu zu der beherrschenden Kategorie der Sprache geworden ist, die alle ihre Teile durchdringt und die gesamte „Form“ der Sprache bestimmt[1]. Auch in anderen Sprachkreisen läßt sich verfolgen, wie die Doppelung eines Wortes, die in den Anfängen der Sprachgeschichte als einfaches Mittel zur Bezeichnung der Menge diente, allmählich als anschaulicher Ausdruck für solche Mengen eintritt, die nicht als geschlossene Ganze gegeben sind, sondern


  1. [1] Gatschet, Grammar of the klamath language (Contributions to North American Ethnology, Vol. II, P. 1, Washington 1890, S. 259 ff.). Zur Bedeutung der „idea of severally or distibutrition“, wie Gatschet sie nennt, s. auch weit. unten, Cap. III.
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Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 143. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/159&oldid=- (Version vom 5.10.2022)