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ersten Stufe ist das Bewußtsein lediglich von dem Gegensatze des „Jetzt“ und „Nicht-Jetzt“ beherrscht, der in sich selbst noch keinerlei weitere Differenzierung erfahren hat – auf der zweiten beginnen sich bestimmte zeitliche „Formen“ gegeneinander abzuheben, beginnt die vollendete Handlung sich von der unvollendeten, die dauernde von der vorübergehenden zu scheiden, so daß ein bestimmter Unterschied der zeitlichen Aktionsarten sich herausbildet – bis zuletzt der reine Relationsbegriff der Zeit als abstrakter Ordnungsbegriff gewonnen wird und die verschiedenen Zeitstufen in ihrem Gegensatz und in ihrer wechselseitigen Bedingtheit klar hervortreten. –

Denn wie von den Relationen des Raumes, so gilt noch mehr von denen der Zeit, daß sie nicht sogleich als Beziehungen zum Bewußtsein kommen, sondern daß ihr reiner Beziehungscharakter immer nur in der Verschmelzung und Verhüllung mit anderen Bestimmungen, insbesondere mit Dingcharakteren und Eigenschaftscharakteren, hervortritt. Wenn die örtlichen Bestimmungen gegenüber den sonstigen sinnlichen Qualitäten, durch welche sich die Dinge unterscheiden, gewisse auszeichnende Merkmale besitzen, so stehen sie doch als Qualitäten mit ihnen auf ein und derselben Stufe. Das „Hier“ und „Dort“ haftet dem Gegenstand, von dem es ausgesagt wird, nicht anders an, als irgendein sonstiges „Dies“ und „Das“. So müssen alle Bezeichnungen der Raumform von bestimmten stofflichen Bezeichnungen ihren Anfang nehmen. Indem diese Auffassung sich vom Raum auf die Zeit überträgt, erscheinen auch hier die zeitlichen Bedeutungsunterschiede zunächst als reine Eigenschaftsunterschiede. Es ist hierfür besonders charakteristisch, daß sie keineswegs allein am Verbum, sondern auch am Nomen hervortreten. Für die Betrachtungsweise, die sich in unseren entwickelten Kultursprachen durchgesetzt hat, haftet die Zeitbestimmung wesentlich denjenigen Redeteilen an, die einen Vorgangs- oder Tätigkeitsausdruck in sich schließen. Der Sinn der Zeit und die Mannigfaltigkeit der Beziehungen, die sie in sich faßt, kann nirgends anders als am Phänomen der Veränderung ergriffen und fixiert werden. Das Verbum, als Ausdruck eines bestimmten Zustandes, von dem die Veränderung anhebt oder als Bezeichnung des Aktes des Übergangs selbst, erscheint daher als der eigentliche und einzige Träger der zeitlichen Bestimmungen: es scheint das „Zeitwort“ κατ᾽ ἐξοχήν zu sein. Noch Humboldt hat diesen Zusammenhang aus der Natur und Eigenart der Zeitvorstellung einerseits, der Verbalvorstellung andererseits als notwendig zu erweisen gesucht. Das Verbum ist nach ihm das Zusammenfassen eines energischen Attributivum (nicht eines bloß qualitativen) durch das Sein. Im energischen

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Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 171. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/187&oldid=- (Version vom 11.10.2022)