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gebraucht wurde[1].“ Diese Anschauung der Zeit als eines Dinges drückt sich u. a. auch darin aus, daß die Verhältnisse der Zeit durch Nomina, denen ursprünglich eine räumliche Bedeutung anhaftet, wiedergegeben werden[2]. Und ebenso wie vom Ganzen der Zeit im Grunde immer nur das jeweilige im Bewußtsein gegenwärtige Zeitstück erfaßt und den anderen nicht-gegenwärtigen Teilen gegenübergestellt wird, so macht sich die gleiche dingliche Zerstückung auch in der Auffassung der Handlung und Tätigkeit geltend. Die Einheit der Handlung „zerfällt“ buchstäblich in derartige dingliche Einzelstücke. Eine Handlung kann, auf der Stufe, auf der wir hier stehen, nur dadurch dargestellt werden, daß die Sprache sie in alle ihre Einzelheiten zerlegt und jede derselben zur gesonderten Darstellung bringt. Und bei dieser Zerlegung handelt es sich nicht um eine gedankliche Analyse – denn diese geht mit der Synthese, mit der Erfassung der Form des Ganzen, Hand in Hand und bildet zu ihr das korrelative Moment –, sondern um ein sozusagen materielles Zerschlagen der Handlung in ihre Bestandteile, deren jeder nun als ein für sich bestehendes objektives Dasein angeschaut wird. So wird es z. B. als eine gemeinsame Eigentümlichkeit einer großen Anzahl afrikanischer Sprachen bezeichnet, daß sie jeden Vorgang und jede Tätigkeit in ihre Teile zerlegen und jeden Teil für sich in einem selbständigen Satz zur Darstellung bringen. Das Tun wird in all seinen Einzelheiten beschrieben und jede dieser Einzelhandlungen wird durch ein besonderes Verbum ausgedrückt. Ein Vorgang etwa, den wir durch den einzigen Satz: „er ertrank“ bezeichnen, muß hier durch die Sätze: „er trank Wasser, starb“ wiedergegeben werden; die Tätigkeit, die wir als „abschneiden“ bezeichnen, wird durch „schneiden, fallen“, die Tätigkeit des Bringens durch „nehmen, dorthin gehen“ wiedergegeben[3]. Steinthal hat diese Erscheinung, die er mit Beispielen aus den Mande-Negersprachen belegt, psychologisch damit zu erklären gesucht, daß er sie auf eine „mangelhafte Verdichtung der Vorstellungen“ zurückführt[4]. Aber eben diese „mangelhafte Verdichtung“ weist deutlich auf eine Grundeigentümlichkeit der Zeitvorstellung jener Sprachen zurück. Weil hier nur die einfache Scheidung des Jetzt und Nicht-Jetzt besteht, so ist nur der relativ kleine Ausschnitt


  1. [1] Roehl, Versuch einer systemat. Grammatik der Schambalasprache, Hamburg 1911, S. 108 f.
  2. [2] Vgl. Codrington, Melanesian languages, S. 164 f.
  3. [3] S. hierf. die Beispiele aus dem Ewe und anderen Sudansprachen bei Westermann, Ewe-Grammat., S. 95, u. Sudansprachen, S. 48 ff., aus der Nubasprache bei Reinisch, Die Nuba-Sprache, Wien 1879, S. 52.
  4. [4] S. Steinthal, Die Mande-Negersprache, S. 222.
Empfohlene Zitierweise:
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 174. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/190&oldid=- (Version vom 11.10.2022)