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hat ursprünglich keinen pluralen Sinn besessen, sondern geht auf die singulare Femininendung -a zurück, die als Bezeichnung kollektiver Abstrakta verwendet wurde. Die Formen auf -a waren also von Haus aus weder pluralisch noch singularisch, sondern Kollektiva schlechthin, die je nach Bedürfnis bald in der einen, bald in der anderen Weise gefaßt werden konnten[1].

Auf der anderen Seite zeigt sich, daß die Sprache – analog dem, was beim Zählverfahren zu beobachten war – auch in der Form der Pluralbildung, nicht unvermittelt der abstrakten Kategorie der Einheit eine abstrakte Mehrheitskategorie gegenüberstellt, sondern daß zwischen beiden mannigfache Abstufungen und Übergänge bestehen. Die ersten Vielheiten, die von ihr unterschieden werden, sind nicht Vielheiten schlechthin, sondern spezifische Vielheiten, die einen besonderen und auszeichnenden qualitativen Charakter an sich tragen. Abgesehen von dem Gebrauch des Dual und Trial, unterscheiden viele Sprachen einen doppelten Plural: einen engeren für zwei und mehrere, aber immer wenige und einen weiteren für viele Gegenstände. Dieser Gebrauch, den Dobritzhoffer von der Sprache der Abiponen berichtet[2], hat in den semitischen Sprachen z. B. im Arabischen sein genaues Gegenbild[3]. Humboldt bemerkt in der Darstellung der Mehrheitsformen des Arabischen, das neben einem Dual den beschränkten Plural von 3–9 und den Vielheits-Plural für 10 und mehr oder eine unbestimmte Anzahl von Gegenständen kennt, daß die hier zugrunde liegende Ansicht, den Gattungsbegriff gewissermaßen als außer der Kategorie des Numerus liegend zu betrachten und von ihm durch Beugung Singularis und Pluralis zu unterscheiden, „unleugbar eine sehr philosophische“ genannt werden müsse[4]. In Wahrheit scheint jedoch hier der Gattungsbegriff nicht sowohl seiner generischen Bestimmtheit nach konzipiert und, kraft eben dieser Bestimmtheit aus der Unterscheidung des Numerus herausgehoben zu werden, als er vielmehr in diese Form der Unterscheidung noch gar nicht


  1. [1] In den Singular setzte man, nach Brugmann, seit urindogermanischer Zeit ein Nomen, wenn man seinen Begriffsinhalt als etwas Einheitliches vorstellte und tatsächlich etwa vorhandene Gliederung der Einheit nicht berücksichtigte; andererseits wurde der Plural nicht nur da gebraucht, wo man mehrere Exemplare einer Gattung, mehrere getrennte Vorgänge und Handlungen unterschied, sondern auch, wo bei einem Begriff seine irgendwie mehrheitliche Wesenheit ausgedrückt werden sollte (Brugmann, Kurze vgl. Grammat., S. 413; vgl. Griechische Grammat. ³, S. 369 f.).
  2. [2] Dobritzhoffer, Historia de Abiponibus II, 166 ff. (cit. bei Humboldt, Über den Dualis, W. VI, 1, 19 f.).
  3. [3] Näheres bei Brockelmann, Grundriß I, 436 f.
  4. [4] Über den Dualis, a. a. O. VI, 1, 20.
Empfohlene Zitierweise:
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 193. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/209&oldid=- (Version vom 12.11.2022)