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und Vereinzelung. In der Form der Pluralbildung scheint dieser doppelte Typus der geistigen Auffassung der Mehrheit sich deutlich auszuprägen. Die Bildung der Mehrheitsform erscheint in dem einen Fall durch die Anschauung dinglicher Komplexe, in dem anderen durch die Anschauung der rhythmisch-periodischen Wiederkehr der Phasen eines bestimmten zeitlichen Prozesses geleitet; in dem einen richtet sie sich vorwiegend auf gegenständliche Ganzheiten, die aus einer Mehrheit von Teilen bestehen, in dem anderen auf die Wiederholung von Ereignissen oder Tätigkeiten, die sich miteinander zu einer stetigen Folge verknüpfen. –

So haben in der Tat diejenigen Sprachen, die in ihrem ganzen Bau eine vorwiegend verbale Struktur aufweisen, auch eine eigentümliche rein „distributive“ Auffassung der Mehrheit entwickelt, die sich von der kollektiven scharf abhebt. Die scharfe Herausarbeitung und Charakteristik der verbalen Akte wird hier zum eigentlichen Vehikel der Mehrheitsauffassung. Die Sprache der Klamath-Indianer z. B. hat kein eigenes Mittel ausgebildet, um zwischen der Bezeichnung einzelner Objekte und der einer Mehrheit von Objekten zu unterscheiden. Aber in größter Genauigkeit und Folgerichtigkeit wird statt dessen der Unterschied beachtet und festgehalten, der zwischen einem Tun besteht, das sich in einem einmaligen zeitlichen Akt erschöpft, und einem solchen, das eine Mehrheit zeitlich verschiedener, aber inhaltlich gleichartiger Phasen in sich faßt. „Für den Geist des Klamath-Indianers“ – sagt Gatschet – „erschien die Tatsache, daß Verschiedenes zu verschiedenen Zeiten wiederholt getan wird, oder daß dasselbe mehrmals durch verschiedene Personen getan wurde, weit bedeutungsvoller, als die reine Idee der Mehrheit, wie wir sie in unseren Sprachen besitzen. Diese Kategorie der Gesondertheit machte auf ihn einen so starken Eindruck, daß die Sprache sie überall durch ein besonderes symbolisch-lautliches Mittel, durch die Verdoppelung zum Ausdruck bringt.“ Alle Ausdrücke des „Plurals“ in unserem Sinne sind daher im Klamath erweislich jüngeren Ursprungs, während der Gedanke der Sonderung eines Aktes in eine Mehrheit gleichartiger Prozesse, durch das angegebene Mittel der Reduplikation, das die gesamte Sprache bis herab zu den Postpositionen und gewissen adverbialen Partikeln durchdringt, stets scharf und eindeutig bezeichnet wird[1]. Das Hupa, eine Sprache des athapaskischen Sprachkreises, verwendet in vielen Fällen den Singular, wo wir den Plural erwarten würden: nämlich immer dann, wenn an einer Handlung zwar eine Mehrheit von Individuen beteiligt ist, die Handlung selbst aber als eine Einheit erscheint.


  1. [1] S. Gatschet, Klamath-Language, S. 419, 464, 611.
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Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 196. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/212&oldid=- (Version vom 13.11.2022)