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in den Liedern, die beim Mahlen und Backen u. s. f. gesungen werden, kann man gleichsam noch unmittelbar heraushören, wie hier eine spezifische rhythmische Empfindung, die durch die besondere Richtung der Arbeit bestimmt wird, nur dadurch bestehen und sich in das Werk umsetzen kann, daß sie sich gleichzeitig im Laut objektiviert[1]. Vielleicht entstammen auch einige Formen der Reduplikation beim Verbum, als Ausdrücke eines Aktes, der eine Mehrheit rhythmisch wiederkehrender Phasen in sich schließt, einer solchen Verlautbarung, die ursprünglich von dem eigenen Tun des Menschen seinen Ausgang nahm. In jedem Fall konnte die Sprache das Bewußtsein der reinen Zeitform und der reinen Zahlform nicht anders gewinnen, als dadurch, daß sie es an bestimmte Inhalte, an gewisse rhythmische Grunderlebnisse anknüpfte, in welchen beide Formen wie in unmittelbarer Konkretion und Verschmelzung gegeben waren. Daß es hierbei die Differenzierung nicht sowohl der Dinge, als vielmehr der Akte war, von der die Sonderung und „Distribuierung“, also eines der Grundmomente der Zählung, ihren Ausgang nahm, scheint auch dadurch bestätigt zu werden, daß in vielen Sprachen der Mehrheitsausdruck beim Verbum nicht nur dort gebraucht wird, wo eine tatsächliche Mehrheit von Tätern vorhanden ist, sondern wo ein einzelnes Subjekt ein und dasselbe Tun auf verschiedene Objekte richtet[2]. Für eine Anschauung der Mehrheit,


  1. [1] Näheres s. bei Karl Bücher, Arbeit und Rhythmus (4. Aufl. Lpz. 1909).
  2. [2] Dies ist also der umgekehrte, aber genau entsprechende Fall, der soeben (S. 196) am Beispiel des Hupa betrachtet wurde. Während dort der Singular des Verbums auch bei einer Mehrheit der Subjekte gebraucht wird, wenn die Handlung selbst (wie etwa die Ausführung eines Tanzes) als eine unteilbare Einheit angesehen wird, so tritt andererseits in den meisten amerikanischen Eingeborenensprachen ein transitives Verbum in den Plural, wenn sein direktes Objekt in der Mehrzahl steht, die Handlung also auf verschiedene Gegenstände gerichtet und dadurch in sich selbst gespalten erscheint. Auch in anderen Sprachen ist der Ausdruck der Mehrheit am Verbum nicht sowohl von der Vielheit der Subjekte, als vielmehr von der der Objekte des Wirkens, oder von beiden zugleich, abhängig. (Beispiele aus dem Kiwai, einer Papuasprache, gibt Ray, Torres-Expedit. III, 311 f.; von den afrikanischen Sprachen unterscheidet z. B. die Nuba-Sprache, ob das Objekt, auf das sich die Tätigkeit bezieht, ein einzelnes ist oder aus einer Mehrheit besteht. Reinisch, Nuba-Sprache, S. 56 f., 69 f. Die Tagalische Sprache, die von Humboldt im Kawi-Werk eingehend beschrieben wird, wendet beim Verbum oft ein bestimmtes Pluralpräfix an, um dadurch ebensowohl die Mehrheit der Handelnden wie insbesondere eine in der Handlung selbst liegende Vielfältigkeit oder Mehrfachheit zu bezeichnen. Der Begriff der Mehrheit wird in diesem Falle bald auf die Handelnden, bald auf die Handlung oder auch auf die mehr oder weniger häufige Beschäftigung mit ihr bezogen. So bedeutet: mag-súlat (von sulat ‚schreiben‘) sowohl: ‚viele schreiben‘ als gewöhnlicher Plural, wie ein Frequentativum ‚er schreibt viel‘, oder es drückt einen „habituellen Modus“ aus (‚es ist sein Geschäft zu schreiben‘). Näheres bei Humboldt, a. a. O. II, 317, 376 ff.).
Empfohlene Zitierweise:
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 198. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/214&oldid=- (Version vom 19.11.2022)