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Körpers, sowie Kleidungsstücke gewöhnlich im Singular, auch wenn sie zweifach oder mehrfach an einem Individuum vorhanden sind, pflegen dagegen in den Plural zu treten, wenn sie mehreren Personen zugehören[1]: die Unterscheidung der Zahl ist somit auch hier in größerer Schärfe für die Anschauung der Individuen, als innerhalb der bloßen Sachanschauung durchgebildet. –

Und auch hier drückt sich nun in den Zahlbezeichnungen, die dieser personalen Sphäre entstammen, jene Wechselbeziehung aus, die überhaupt zwischen der Zahl und dem Gezählten besteht. Es hat sich bereits allgemein gezeigt, daß die ersten Zahlbezeichnungen, die die Sprache erschafft, von ganz bestimmten konkreten Zählungen herrühren und gleichsam noch die Farbe derselben an sich tragen. Diese eigentümliche und spezifische Färbung wird am deutlichsten dort erkennbar, wo die Zahlbestimmung nicht von der Unterscheidung der Dinge, sondern von der der Personen ihren Ausgang nimmt. Denn hier tritt die Zahl zunächst nicht als ein allgemeingültiges gedankliches Prinzip, nicht als ein unbeschränkt fortsetzbares Verfahren auf, sondern hier schränkt sie sich von Anfang an innerhalb eines bestimmten Kreises ein, dessen Grenzen nicht nur durch die objektive Anschauung, sondern noch schärfer und klarer durch die reine Subjektivität des Gefühls bezeichnet sind. Kraft der letzteren wird das „Ich“ vom „Du“, das „Du“ vom „Er“ geschieden; aber es besteht zunächst kein Anlaß und keine Notwendigkeit, über diese scharf bestimmte Dreiheit, die im Unterschied der „drei Personen“ gegeben ist, zur Anschauung einer weiteren Vielheit fortzugehen. Soweit eine solche Vielheit konzipiert und sprachlich bezeichnet wird, trägt sie doch nicht den gleichen Charakter der „Distinktheit“ an sich, der sich in der wechselseitigen Sonderung der personalen Sphären ausprägt. Jenseit der Drei beginnt vielmehr sozusagen das Reich der unbestimmten Mehrheit – der bloßen Kollektivität, die in sich nicht weiter gegliedert wird. In der Tat sehen wir überall in der Entwicklung der Sprache die ersten Zahlbildungen an derartige Schranken gebunden. Die Sprachen vieler Naturvölker zeigen, daß die Tätigkeit der Sonderung, wie sie sich am Gegensatz


    314 f., III, 2, 50; – für die melanesischen Sprachen s. v. d. Gabelentz, a. a. O., S. 87. – Im Hupa haben nur wenige Nomina eine Pluralform: es sind solche, die das Alter oder den Stand eines Menschen bezeichnen oder die eine Verwandtschaftsbeziehung ausdrücken. (Goddard, Athapascan in Boas’ Handbook I, 104.) Im Aleütischen gibt es zwei verschiedene Ausdrücke der Mehrheit, deren einer für lebende Wesen, deren anderer für leblose Gegenstände gebraucht wird; s. Victor Henry, Esquisse d’une grammaire raisonnée de la langue aléoute, Paris 1879, S. 13.

  1. [1] S. Boethlingk, Sprache der Jakuten, S. 340.
Empfohlene Zitierweise:
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 200. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/216&oldid=- (Version vom 21.11.2022)